Interview: Henning Mielke über „Vergessene Kinder“ in alkoholkranken Familien

Jedes sechste Kind in Deutschland wächst in einer suchtbelasteten Familie auf, das sind ca. 2,65 Millionen
Kinder insgesamt. Ein Drittel von ihnen wird später selbst abhängig, ein Drittel erleidet psychische Probleme und nur ein Drittel schafft es, ohne größere Folgeschäden aufzuwachsen. Diese Kinder werden oft auch als „Vergessene Kinder“ bezeichnet, denn es ist ohnehin schon schwer genug, offen über Alkoholismus in Familien zu reden – das Wohlergehen der Kinder blieb und bleibt dabei im gemeinschaftlichen Diskurs meist gänzlich auf der Strecke. Alkoholkonsum ist in unserer Gesellschaft tief verankert und akzeptiert. Wenn Eltern die Kontrolle über ihren Alkoholkonsum verlieren, leiden vor allem die Kinder. Diese entwickeln sich dann zu wahren Überlebenskünstler*innen. Gezwungenermaßen: Sie übernehmen die Aufgaben ihrer Eltern, kümmern sich um Geschwister und entwickeln komplexe Rollenmuster, die ihnen dabei helfen, die Situation zu verarbeiten.
Oft tun sie alles, um die prekäre Situation der Familie nach außen zu verheimlichen.

So geht es auch der 6-jährigen Anna in „Das Leben ist ein Wunschkonzert„, deren Eltern schon lang zwischen zu viel Bier und Wein den Tag verbringen. Anna versucht, das Chaos zu Hause unter Kontrolle zu bringen und ihre Eltern zu schützen, denn wie alle Kinder hat auch sie ihre Eltern lieb und um sie Angst.
Die Autorin Esther Becker hat zum schwierigen Themenkomplex „Alkoholismus in der Familie“ ein leichtfüßiges Stück geschrieben und wurde dafür mit dem „berliner kindertheaterpreis 2019“ ausgezeichnet.

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Im Rahmen der Produktion sprachen wir mit Henning Mielke, Mitgründer, Projektkoordinator und Leiter der Online-Beratung von NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V.

NACOA Deutschland gibt es seit 2004, worin besteht der Kern eurer Arbeit?
Wir haben das Ziel die Situation der von Sucht in der Familie betroffenen Kinder zu verbessern. Bei drei Millionen betroffenen Kindern klingt das ziemlich größenwahnsinnig. Natürlich können wir als kleine Organisation das nicht alleine schaffen. Wir sind die einzige Organisation, die das Thema auf Bundesebene bearbeitet. Auf lokaler Ebene gibt es ca. 200 Hilfeangebote, die für die Kinder Gruppen zum Spielen und Reden organisieren. Wir kämpfen auf Bundesebene dafür, dass solche Angebote in Deutschland in jeder Stadt und in jedem Landkreis zur Verfügung stehen und auch finanziert werden. Denn im Moment ist es so, dass viele dieser Angebote nur auf Spendenbasis existieren und ständig von der Schließung bedroht sind. Das wollen wir ändern, indem wir bessere gesetzliche Rahmenbedingungen fordern und aktiv an der Gestaltung mitarbeiten.

Jedes sechste Kind in Deutschland lebt in einer Familie mit mindestens einem suchtbelasteten Elternteil. Was muss sich in unserer Gesellschaft ändern?
Wir bräuchten eine ganz breite gesellschaftliche Debatte über unseren Umgang mit Suchtmitteln und vor allem mit der Volksdroge Nummer eins: dem Alkohol. Der wird bei uns viel zu selbstverständlich bei jeder Gelegenheit konsumiert. Die Alkoholkrankheit zerstört unzählige Familien und belastet die psychische Entwicklung der darin aufwachsenden Kinder. 70.000 Menschen sterben jedes Jahr daran. 40 Milliarden Euro volkswirtschaftliche Schäden verursacht der Alkohol in Deutschland Jahr für Jahr. Aber unsere Gesellschaft tut so, als wäre das alles normal. Ich würde sagen, das ist krank. Und krank, das ist übrigens die Wortbedeutung von Sucht. Das Wort stammt vom etwas altmodischen Wort „siech“ ab, das mit dem englischen „sick“ verwandt ist. Wenn wir also von Suchtkrankheit sprechen, dann ist das doppelt gemoppelt und heißt „krank, krank“. Sehr krank. Und genau das ist es. Ich finde, dass unsere Gesellschaft eine sehr kranke Gesellschaft ist, in der es in vielen Lebensbereichen so verrückt zugeht, dass die Menschen sich betäuben müssen oder einen Ersatz für ihre eigentlichen Bedürfnisse suchen. Darüber müssten wir reden, wenn wir uns fragen, warum sich jedes Jahr 70.000 Menschen mit Äthylalkohol tödlich vergiften.

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Was würdest du einem Kind, das in einer Familie mit Suchtproblematik aufwächst, raten?
Das Wichtigste: Mach Dir klar, dass Du nicht schuld bist. Deine Eltern haben eine Krankheit und deren Ursachen haben nichts mit Dir zu tun, selbst wenn die Eltern das behaupten. Deine Eltern sind keine schlechten Menschen, weil sie krank sind. Du darfst sie weiter lieben, auch wenn Du die Krankheit hasst. Du kannst die Krankheit nicht heilen. Das ist nicht Deine Aufgabe. Du bist OK. Das Zweitwichtigste: Such Dir Erwachsene, die für Dich da sind, denen Du vertraust und mit denen Du Dich wohl fühlst. Oma, Opa, die Eltern Deiner Freund*innen, Lehrer*innen, Tante, Onkel oder die nette Frau aus der Wohnung gegenüber. Verbring so viel Zeit mit diesen sicheren Erwachsenen, wie Du kannst und sprich mit ihnen darüber, wie es Dir geht, was Du fühlst. Das Drittwichtigste: Mach Dein Ding. Tu Dinge, die Dir Freude machen, wo Du ausgelassen und fröhlich sein kannst. Das kann ein Sport sein oder das Erlernen eines Instrumentes. Singen, Tanzen, mit anderen Kindern draußen sein, Theater spielen, ganz egal – Hauptsache Du kannst dabei neue Sachen lernen und entdecken, was in Dir alles an tollen Fähigkeiten steckt. Es ist Dein Leben und Du darfst es gestalten.

Welche Unterstützung gibt es für Erwachsene aus dem Umfeld, wie Erzieher*innen und Lehrer*innen?
Ich würde jedem und jeder empfehlen unsere Website www.nacoa.de zu besuchen. Da haben wir viele Infos gesammelt, um Menschen zu unterstützen, die professionell mit Kindern arbeiten. Auf der Website sind auch Weiterbildungsangebote verzeichnet, die sich mit dem Thema „Kinder suchtkranker Eltern“ befassen. Und dann haben wir haben wir noch eine Telefonberatung, die auch für Fachkräfte zur Verfügung steht: jeden Montag von 10-11 und von 20–21 Uhr unter der Nummer 030 35 12 24 29. Angebote wie die Suchtprävention der Berliner Senatsverwaltung für Bildung versorgen die Lehrer*innen mit vielen Infos zu Suchtfragen. Das finde ich auch wichtig, dass Lehrer*innen möglichst viel über Sucht wissen und in der Lage sind, Kinder und Jugendliche kompetent zu begleiten.


7 Dinge für Kinder

Sucht ist eine Krankheit.

  1. Du hast sie nicht verursacht.
  2. Du kannst sie nicht heilen.
  3. Du kannst sie nicht kontrollieren.
  4. Du kannst für dich selber sorgen!
  5. Zum Beispiel, indem du über deine Gefühle mit Erwachsenen sprichst, denen du vertraust.
  6. Du kannst gesunde Entscheidungen treffen – für dich.
  7. Du kannst stolz auf dich sein und dich selber lieb haben.
Foto: David Baltzer / bildbuehne.de