Mitbestimmung am GRIPS Theater #3

Über interne Streitkultur, Mitbestimmung als Qualitätsmerkmal, über Macht und über Momente des Innehaltens – Theaterleiter Philipp Harpain im Gespräch

Eine Blog-Reihe von Maryam Rosenboom (FSJ Kultur 2020/21)

Am GRIPS Theater werden zentrale künstlerische Entscheidungen von Vertreter*innen verschiedener Abteilungen am Haus in einem Gremium abgestimmt. Wie viel Entscheidungsgewalt wird aus der Hand gegeben? Findet regelmäßige Reflektion über das Kommunikationsverhalten und die Produktionsprozesse statt? Und mit welchen Werten leitet Philipp Harpain das Haus?
Philipp Harpain | ©Pietro Chiussi

Philipp und ich treffen uns im August diesen Jahres direkt nach den Theaterferien im Foyer des GRIPS Theaters. Noch hat die neue Spielzeit nicht angefangen, das Theater ist leer, es herrscht Ruhe vor dem Sturm – der perfekte Moment für ein ausführliches und sehr intensives Gespräch! Lieber Philipp: Danke dafür!

Maryam: Regisseur Jochen Strauch berichtet im Jubiläumsbuch „Für die Zukunft – 50 Jahre GRIPS“ von seiner ersten Erfahrung mit dem Gremium im GRIPS und resümiert: „Diese Begegnung mit der Utopie, mit dem angstbefreiten und über weite Strecken auch hierarchiefreien Raum, ist für mich beglückend.“
Du bist seit 2002 am Haus und hast hier die theaterpädagogische Abteilung aufgebaut. Seit der Spielzeit 16/17 bist du der Leiter des GRIPS Theaters. Was sagst du, wird oder ist die Utopie von flachen Hierarchien am GRIPS Theater deiner Meinung nach schon Realität?

Philipp Harpain: Flache Hierarchien sind Realität am GRIPS und das Gremium ist in jedem Fall etwas Besonderes. Das gibt es schon seit den 70igern. Als ich die Leitung übernommen habe, wollte ich das Ganze weiterentwicken und an die heutige Zeit anpassen. Das Gremium wurde nach Beratungen mit dem Betriebsrat von 8 auf 12 Mitglieder erweitert (sechs Gewählte und sechs von der Leitung ernannte inklusive mir). So werden jetzt alle Abteilungen durch eine Vertretung repräsentiert. Auch das Abstimmungsverhältnis haben wir geändert. Vorher gab es eine Art Überhangmandat, so dass die Leitung quasi eine zweite Stimme und so  mehr Gewicht hatte. Mein Interesse ist es aber, eine große Mehrheit hinter einer Entscheidung z.B. einer Autorenschaft oder einem Stück zu versammeln und dieses mit einem großen Rückenwind rauszubringen. Deswegen gibt es jetzt für das Gremium eine Zweidrittelmehrheit, d.h. weder die gewählten Vertreter*innen noch die von mir nominierten Vertreter*innen haben die Mehrheit, sondern wir müssen mit einander sprechen und uns einigen. Das ist nicht immer einfach, aber ich finde es gut. Da wir ja immer wieder Uraufführungen herausbringen, ist dies auch bereits ein wichtiger Check-Up z.B. welche Regie für welches Stück gut geeignet sein könnte.

Maryam: Muss es bei zwölf Mitgliedern nicht manchmal Stunden dauern, bis eine Entscheidung getroffen werden kann? Und stehen sich dann nicht Effizienz und Demokratie auch manchmal im Weg?
Philipp Harpain (lacht): Ja, das kommt vor. Wir treffen uns regelmäßig einmal im Monat für drei Stunden. Die Diskussionen dauern. Mal sind sie sehr konzentriert, manchmal sind sie aber auch sehr turbulent und immer wieder befruchtend, weil neue Ideen dabei entstehen und beispielsweise das den Autor*innen mitgegeben werden kann. Von daher würde ich es nicht missen wollen. 
Manchmal gibt es einen Zeitdruck, der ist sehr ätzend. So eine Spielzeit muss ja auch irgendwann veröffentlicht werden und ungefähr ein, zwei Jahre vorher fangen wir an, diese zu planen, also müssen vorher die Weichen gestellt sein. Das ist für viele im Gremium nicht alltäglich, sich so früh mit der Planung von Theater zu beschäftigen, denn schließlich muss man auch vorausdenken,  was wird aktuell, was bleibt aktuell?

Maryam: Findet regelmäßige Reflektion über das Kommunikationsverhalten und die Produktionsprozesse statt? 
Philipp Harpain: Ja, die eigenen Abläufe versuchen wir immer wieder zu überprüfen: Wer spricht wann mit wem? Das ist auch die Kunst an einem Haus mit flachen Hierarchien zu erkennen, wann bestimmte trotzdem Kommunikationsprozesse gestaltet werden müssen. 
Es ist mir beispielsweise wichtig, die Menschen von der Technik, den Gewerken etc. dazu zu ermuntern, so früh wie möglich zu kommunizieren, wenn ihnen etwas auffällt, wenn etwas nicht funktionieren kann, oder wenn sie bessere Lösungen haben. Dies fördert eigenständiges verantwortliches Handeln im Sinne aller. In dem Moment, in dem man nur das ausführende Organ ist, wird auch die eigene Kreativität nicht stark angesprochen und die Identifikation mit dem Produkt feht. Und in allen Bereichen, nicht nur im Schauspiel, geht es eben darum, diese eigene Kreativität zu entdecken und Lösungen zu finden. Ich glaube, das schätzen viele Mitarbeitende hier am GRIPS Theater und sind auch deswegen hier, weil sie wissen, dass man auch Ideen und Wünsche anbringen kann.

Maryam: Was würdest du sagen, nach fünf Jahren Leitung, sind die Werte, mit denen du das Haus leitest?
Philipp Harpain: Zum einen auf jeden Fall der Zusammenhalt des Hauses, der ist mir sehr wichtig. Von diesen fünf Jahren waren ja die letzten eineinhalb Jahre unter Corona-Bedingungen. Andreas Joppich und mir war und ist dabei wichtig, dass wir während der Einstellung des Spielbetriebs alle Kolleg*innen – sowohl die Festangestellten wie auch die freien Mitarbeiter*innen, Gäste und Autor*innen – mitnehmen konnten, so dass wir dank Kurzarbeit und Zuschüssen nicht kündigen mussten bzw. Ausgleichszahlungen anbieten konnten. Das ist eine notwendige Haltung vom Haus: Zusammenhalten – auch in einer Krisensituation. Da ist das GRIPS schon immer stark drin gewesen, das ist auch mir wichtig.
Das zweite ist, innerhalb des GRIPS eine gute Streitkultur zu haben, die bringt uns voran und auf neue Ideen. Deshalb haben wir bestimmte Orte, an denen eben diese Streitkultur auch wirklich ausgelebt werden kann.
Und das dritte ist, dass wir ein Theater machen, welches unser junges Publikum in Berlin ernst nimmt. Wir machen nach wie vor aufklärerisches Theater und versuchen Kinder und Jugendliche zu fordern, ohne sie zu überfordern. Eine Kunst zu machen, die Kinder und Jugendliche selber verstehen und entschlüsseln können. Es geht darum, die Kinder in ihren Lebenswelten abzuholen. Und uns auch einzugestehen: Wenn sie es nicht verstehen, dann müssen wir uns noch mal an die eigene Nase fassen und gegebenenfalls etwas überarbeiten.

Maryam: Bei meiner Recherche bin ich über eine Publikation der Heinrich-Böll-Stiftung gestoßen, in der Intendant*innen nach ihren Umgang mit der Macht im Alltag gefragt wurden. Da wir gerade so viel über flache Hierarchien und Mitbestimmung sprechen, frage ich mich: Philipp, fühlst du dich denn überhaupt „ermächtigt“?
Philipp Harpain: Ja, ein stückweit natürlich schon. Wir haben flache Hierarchien, aber ich bin am Ende des Tages der Leiter dieses Theaters. Ich leite es zusammen mit Andreas Joppich als Geschäftsführer. Wir sind die Vertretung nach innen und außen. Es war mir wichtig, eine zweite Person dazu zunehmen, die für den geschäftlichen Bereich mitverantwortlich ist. Das heißt, wir sind diejenigen, die Verträge machen, die mit der Politik oder mit dem Hausbesitzer verhandeln. Wir schaffen einen Rahmen dafür, was hier stattfinden kann. 
Bei mir liegt natürlich auch die künstlerische Verantwortung für das Haus. In dem Moment, in dem ich sage, ich möchte gerne, dass dieses Haus die Tradition von Emanzipation einerseits fortsetzt, sie aber auch andererseits immer wieder neu entwickelt, setze ich einen Rahmen. So zu arbeiten ist eine bewusste Entscheidung. Andere Intendant*innen sind vielleicht der Meinung, sie müssten alleine den Spielplan bestimmen oder die Besetzungen entscheiden. Aber ehrlich gesagt finde ich den Prozess als solchen viel spannender. Also ja, ich habe Macht. Und: Es ist teilweise auch ein bewusstes Abgeben von Macht. Weil ich glaube, dass dann die Entscheidungen, die man gemeinsam trifft, viel besser sind, und ich glaube, das strahlt auch nach außen.

Maryam: Ich erlebe das GRIPS als ein Theater, das weiß, welche Werte es vertritt und welche Wirkung mit seinen Stücken erzielt werden soll. Trotzdem leben wir in einer stetig wandelnden Welt und die Kulturlandschaft entwickelt sich weiter. Nehmt ihr euch auch Momente zum Innehalten: Wo wollen wir hin, in welche Richtung soll es gehen?
Philipp Harpain: Wir nehmen uns bewusst Zeit, um zu schauen, was los ist in der Welt. Es gibt immer wieder Fragen, mit denen wir uns beschäftigen, die über die normale Beschäftigung mit einem Thema oder einfach nur der Stoffsuche hinausgehen. Es gibt dabei natürlich die Ängste und Nöte, sowie die Wünsche der Kinder und Jugendlichen, die uns beschäftigen. 
Das Aufgreifen von Stoffen passiert auf der Bühne. Aber auch darüber hinaus, indem sich ein Theater engagiert und mit anderen Partnern vernetzt. Wir arbeiten mit vielen NGOs zusammen und unterstützen Aktionen wie z.B. jetzt im Herbst Die goldenen Keule oder den Menschenrechtspreis Carl-von-Ossietzky-Medaille. Solche Veranstaltungen finde ich wirklich wichtig, dass wir das Theater öffnen und aktuelle Diskussionen ins Haus holen, dafür stehen wir ja auch als GRIPS.

Maryam: Und wo soll es in Zukunft hingehen? Kannst du einen Ausblick geben? 
Was sind Veränderungen oder Ziele, die du in den nächsten Jahren vorantreiben möchtest?
Philipp Harpain: Immer die Frage nach den Veränderungen. Wobei ich viele Sachen hier wirklich auch erhaltenswert halte und weiter ausbauen oder weiter entwickeln möchte. Wichtig ist mir: Sich immer wieder frisch darin zu halten, dass es uns nicht langweilig und nicht zu anstrengend wird, so viel Demokratie im Theater zu leben. Dann natürlich, sich die neuen Einflüsse anzusehen: Unsere aktuelle Stadtgesellschaft und die Stoffe der Zukunft. 
Mir war wichtig, dass hier paritätisch Männer und Frauen inszenieren und als Autor*innen arbeiten. Das haben wir auch halbwegs geschafft, aber das kann man auch noch weiter ausbauen. 
Und immer wieder die Frage nach Gerechtigkeit. Inklusion, die Fragen rund um  Diskriminierungen, das sind alles Themen, die uns beschäftigen werden, aber auch schon oft beschäftigt haben. 
Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene zu ermutigen, zu hinterfragen. Und das Wichtige dabei: Überhaupt nicht die Lust und Laune zu verlieren, sehenswerte Geschichten auf die Bühne zu bringen.


Philipp Harpain, Theaterpädagoge, Projektentwickler und Regisseur, wurde 2016 der Künstlerische Leiter und übernahm ein Jahr später – 2017  – die Gesamtleitung von Volker Ludwig und engagierte Andreas Joppich als Geschäftsführung. Zuvor leitete er 14 Jahre die theaterpädagogische Abteilung des GRIPS Theaters, die er zu einer der größten und profiliertesten Deutschlands auf-­ und ausgebaute.
Er gilt als Experte für Stückentwicklungen, Rechercheprojekte, Kinder- und Menschenrechte, partizipative Formate und Kampagnentheater. Diese Arbeit war von jeher geprägt durch Vernetzung und Kooperation – mit Schulen, zahlreichen NGOs und weiteren Partnern. In Produktionen forscht er als Regisseur an der Schnittstelle von Theater & Zirkus sowie interaktiven Formen im Kinder- und Jugendtheater.