Welche Rolle spielen Großeltern in unserem Leben?

Das Kinderstück KAI ZIEHT IN DEN KRIEG UND KOMMT MIT OPA ZURÜCK ist für uns Anlass, über unsere Großeltern nachzudenken. Und zwar aus der Perspektive von vier GRIPS Mitarbeiter*innen, die eine Zeitspanne vier unterschiedlicher Jahrzehnte ab den 1960er Jahren umspannen.

Heute, Anja: „Meine Großmutter wurde 1906 geboren.“

Ich bin in den 60er Jahren geboren und in Bayern auf dem Land aufgewachsen, als Generation der sogenannten Kriegsenkel, was heißt, dass die Großeltern meiner Generation Erwachsene während der Nazizeit und des Zweiten Weltkriegs waren und den Ersten Weltkrieg als Kindern miterlebt haben. 

Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, sind Großeltern vor allem sehr, sehr alte Menschen. Als Kind war ich überzeugt, dass man alte Männer daran erkennt, dass ihnen irgendein Körperteil fehlt, also ein Unterschenkel, ein ganzes Bein, Finger, Unterarme, ganze Arme, manchmal auch ein Auge, oft hatten sie einen Gehstock oder Krücken. Alte Frauen waren klein, runzelig und immer schwarz gekleidet, meistens mit einer Kittelschürze und Kopftuch, in der Tasche immer einen Rosenkranz parat. Und alle hatten schlechte Zähne oder gar keine, manchmal müffelten sie auch, nach alter Haut oder nach Mottenkugeln. Im besten Fall nach Kölnisch Wasser. Die alten Menschen meiner Kindheit waren schlecht gelaunt und mochten keine Kinder. Der Opa meiner Kindergartenfreundin war so einer, der uns immer ausschimpfte und gerne mit seinem Stock uns Kindern hinterher ist, allein nur, weil es uns gab. Vor dem hatte ich richtig Angst.

Viele Kinder meiner Generation hatten auch gar keine Großeltern mehr, denn viele waren ja während des Krieges oder in den Hungerjahren danach gestorben. Als ich geboren wurde, lebte nur noch die Mutter meiner Mutter. Meine Oma, die 1906 geboren ist, war zwar auch eine für mich alte Frau, aber entsprach so gar nicht meinem Bild von alten Menschen. Vielmehr dachte ich, dass meine Oma irgendwie mit der Königin von England verwandt sein könnte, weil die sich so ähnlich sahen und auch waren. Die Familie meiner Mutter war in den 50er Jahren zu Geld gekommen, entsprechend war meine Oma auch eine feine Dame. Immer wie aus dem Ei gepellt, sehr schick, sehr vornehm, sehr elegant, alles passte zusammen, Hut, Handschuhe, Schuhe, Mantel, Regenschirm, Handtasche, Schmuck. Dazu roch sie auch immer ganz fein (Chanel Nr. 5, wie ich später herausfand). Und sie hatte die gleiche Statur wie Queen Elizabeth, ähnlich kompakt, irgendwie ohne Rundungen und Taille. Obwohl sie sich immer zu dick fand und ständig erklärte, sie müsse mal abnehmen. Später erfuhr ich, dass ein Korsett, das meine Oma jeden Tag trug, der Grund für diese Figur war. 

Sie wohnte ca. 100 Kilometer entfernt auch in einem Dorf, wir fuhren regelmäßig zu ihr und sie besuchte uns auch regelmäßig. Zu den Feiertagen war immer bei ihr groß was los, die ganze Verwandtschaft war zu Gast bei ihr im Haus, es gab Unmengen von Essen und Kuchen. Da fällt mir ein: Obwohl meine Oma eine alte Frau war, war es bei ihr zuhause moderner als bei meinen Eltern. Sie hatte einen weißen Farbfernseher mit Fernbedienung, der auf einem Fuß mitten im Wohnzimmer stand, eine riesige weiße Sofalandschaft und Flokati-Teppiche. Außerdem gab es bei ihr immer Spezi zu trinken und ihre Speisekammer war voller Kuchen und Süßigkeiten. Sie hatte zwei Bäder, ganz verrückt, und Matratzen, auf denen man prima hüpfen konnte. Und erstaunlicherweise durften meine Kusine und ich als kleine Mädchen ihre Kleiderschränke plündern, uns als feine Damen verkleiden und unter großem Applaus im Wohnzimmer Modenschauen veranstalten. Meine Mutter verehrte zwar ihre Mutter, aber sie hatte auch unter der sehr strengen und lieblosen Erziehung gelitten, Zärtlichkeiten gab es da nicht, keinerlei Körperberührungen, Umarmungen oder Nähe. Das strahlte meine Oma auch als Oma aus, nur wussten wir Enkelkinder ja nicht, das sie Zärtlichkeiten zu Tode erschreckten. Irgendwie war sie streng und unnahbar, aber irgendwie war sie dennoch auch eine Oma, die einen gerne verwöhnte. Mit viel leckerem Essen und tollen Geschenken. Das war ihre Art, uns zu zeigen, dass sie uns Enkelkinder mochte. Und sie liebte ihren blinden Terrier heiß und innig, der wurde richtig viel gestreichelt. Direkt danach aber kamen wir Enkel, immerhin waren Umarmungen zur Begrüßung mit uns möglich. 

Dass meine Oma wie alle alten Menschen damals auch den Krieg miterlebt hatte, das habe ich erst als Jugendliche durch die Erzählungen meiner Mutter erfahren, ich hatte sie danach gefragt. Da war meine Oma noch keine feine Dame, sondern hat ums Überleben gekämpft und mit viel Erfindungsreichtum und Kraft alleine ihre drei Kinder und ihre eigenen Eltern und Großeltern versorgt bekommen. Mein Opa war ziemlich früh als Soldat eingezogen worden und war lange in Kriegsgefangenschaft.

So, wie meine Mutter über ihre Mutter sprach, so hat es mich natürlich auch beeinflusst, wie ich meine Oma wahrnahm. Die ersten Jahre nach dem Krieg waren in der Erinnerung meiner Mutter die besten Jahre, weil sie als Kinder damals viel Freiheiten hatte, weil sie genug zum Essen hatten und die ständige Angst weg war. In der Zeit musste meine Oma auch ziemlich locker gewesen sein, voller Humor und Lebensfreude. Diese Vorstellung gefiel mir, das blitzte auch bei ihr als meine Oma immer wieder auf. 

Meine Oma ist gestorben, als ich 18 Jahre alt war. So unnahbar, wie sie auch war, so traurig war ich damals bei ihren Tod.

„Was mir geblieben ist, sind die schönen Erinnerungen und Anekdoten, die ich mit meiner Kusine und meiner Mutter teilen kann, und über die wir viel lachen können. Und natürlich, dass mich immer noch die Queen von England an meine Oma erinnert.“