Mit Kindern und Jugendlichen über HIV und Aids reden

Im Gespräch mit „Youthwork“, dem Präventionsprojekt der Berliner Aidshilfe

Am 01. Dezember ist der jährliche Welt-Aids-Tag, den wir hier im GRIPS Blog zum Anlass nehmen, um beim Team von Youthwork, dem Präventionsprojekt der Berliner Aidshilfe, nachzuhaken: Wie kann ich mit Kindern und Jugendlichen über HIV und Aids reden? Müssen wir das heute überhaupt noch? Und wie können sie darin empowert werden, für sich gut informierte Entscheidungen rundum ihre Sexualität zu treffen?
Die Fragen stellte Theaterpädagoge und Blogredaktions-Mitglied Fabian Schrader.

Sind HIV und Aids heutzutage überhaupt noch ein Thema?
HIV und Aids sind heutzutage immer noch Themen – und zwar nicht, weil die Zahlen hoch sind. In Deutschland und in Europa gehen die Zahlen total nach unten, wir haben de facto ganz ganz ganz wenige Übertragungsmöglichkeiten bzw. niedrige Zahlen in den Statistiken vom RKI in Deutschland und Europa (1). 

Wir könnten deshalb eigentlich davon ausgehen, dass HIV und Aids heutzutage keine Themen mehr sein dürften, aber das Stigma rund um HIV und Aids ist immer noch wahnsinnig groß. Die Leute wissen ganz wenig über Übertragungsmöglichkeiten, da gibt es oft Kenntnisstände wie teilweise vor 20-30 Jahren. Daher ist die Arbeit in Schulen mit Jugendlichen ganz besonders wichtig für uns. Wir können mit jungen Menschen darüber sprechen, wie sie Krankheit und Gesundheit sehen, wie sich Diskriminierung und Ausgrenzung anfühlt und auch einfach Fakten zu Übertragungswegen erklären, bevor sie von alten Bildern zu HIV/Aids hören, die sie irgendwo aufschnappen. 

Einer der Gründe, warum wir 2022 weniger Übertragungen von HIV innerhalb von Deutschland haben ist, weil wir in den letzten Jahrzehnten sehr viel in Aufklärung und Prävention von jungen Menschen investiert haben. Wir müssen HIV und Aids auch immer wieder zum Thema machen, wenn wir weiterhin die Übertragungsrate gering halten wollen. Unsere Art der Aufklärung inkludiert HIV-Prävention und Anti-Stigmatisierungsarbeit. Das ist extrem wichtig, da das HI-Virus sich jederzeit wieder verbreiten kann. 

>> Die Leute wissen ganz wenig über Übertragungsmöglichkeiten, da gibt es oft Kenntnisstände wie teilweise vor 20-30 Jahren <<

Was hat sich in den letzten Jahren in der Prävention und Behandlung getan?
Gerade im Bereich Behandlung von einer HIV-Infektion wissen wir seit 2008, dass Menschen, die mit HIV leben, bei richtiger medikamentöser Behandlung eine fast genauso hohe Lebenserwartung haben, wie Menschen ohne HIV. Sie können außerdem Kinder auf natürlichem Weg bekommen (nein, die Kinder haben dann kein HIV) und die Kinder können gestillt werden. Menschen, die mit HIV leben, können nahezu jeden Beruf ausüben – eingeschlossen Pflegefachkraft oder Mitarbeiter*in bei der Feuerwehr. Ganz wichtig:  Beim Sex kann das HI-Virus nicht mehr übertragen werden, wenn die Medikamente regelmäßig eingenommen werden. 

Die antiretroviralen Medikamente sind mittlerweile sehr gut darin, die Replikation des HI-Virus zu unterdrücken. Das bedeutet: Das HI-Virus kann sich im Körper nicht mehr vermehren. Über mehrere Monate bedeutet das, dass sich in den Körperflüssigkeiten eines Menschen (wie z.b. Sperma, Vaginalsekret, Blut) einfach nicht genug Viruskopien befinden, um überhaupt eine Übertragung zu ermöglichen. Diesen Fortschritt bezeichnet man mit der “Formel” N = N, nicht nachweisbar heißt nicht übertragbar. 

Das ist eine wichtige Botschaft für Menschen, die mit HIV leben. Denn sie trägt dazu bei, Ängste vor der Infektion zu reduzieren und alte Bilder von HIV als Todesnachricht aufzulösen.

>>Diesen Fortschritt bezeichnet man mit der “Formel” N = N,
nicht nachweisbar heißt nicht übertragbar.<<

Die rote Schleife signalisiert weltweit Solidarität mit Menschen, die mit HIV leben.

Wie kommen Kinder und Jugendliche heutzutage mit den Themen in Kontakt?
Wir stellen fest, dass Kinder und Jugendliche oft schon von HIV oder Aids gehört haben, aber die zwei Namen durcheinander bringen. In der 9. Klasse gehören HIV & Aids immer noch zum Lehrplan dazu. Wir begrüßen das natürlich. Es gibt aber ein großes ABER: Leider ist es so, dass Lehrkräfte und auch Schulbücher nicht die aktuellsten Informationen zu HIV haben. So lernen Schüler*innen oft alte längst revidierte Fakten. Denn HIV kann man seit vielen Jahren wunderbar behandeln und damit lange leben.

Die wenigsten wissen darüber hinaus, dass es mit der sogenannten Präexpositionsprophylaxe – kurz Prep – die Möglichkeit gibt, sich präventiv vor einer HIV-Infektion zu schützen. Die Prep kann von Fachärzt*innen an Menschen verschrieben werden, die z.B. ein erhöhtes Risiko für eine HIV Infektion haben. Das kann sein, weil sie eine Präferenz für kondomlosen Sex haben. 

Die Prep wird von den Krankenkassen bezahlt und zwar deswegen, weil auch hier sich Prävention rechnet. Den Krankenkassen geht es dabei nicht nur darum, die Menschen vor Leid und Krankheit zu schützen, sondern auch um eine potenziell lebenslängliche und auch teure HIV-Behandlung zu vermeiden. 

Wie kann ich als erwachsene Person ein gutes Setting für Aufklärungs- und Präventionsarbeit schaffen? Was sollte ich da (sprachlich) beachten?
Als erwachsene Person ist es besonders wichtig mit Jugendlichen auf Augenhöhe zu sprechen und ein Setting zu schaffen, in dem Vertrauen existiert. Das schafft man am besten, indem auch Erwachsene ihr Innenleben teilen, von Ängsten berichten, von Scham und von eigenen Sprachlosigkeiten. Das Ziel ist, Jugendliche zu motivieren informierte Entscheidungen zu treffen, die auf Fakten und nicht auf diffusen Ängsten basieren. Erwachsene sollen sie dabei begleiten, für sich und ihren eigenen Körper sowie die eigene Sexualität Worte zu finden. Wir raten Erwachsenen, die mit Jugendlichen über Aufklärung und Prävention sprechen, mit ihren eigenen Worten z.B. für Genitalien zu sprechen, aber auch die Worte der Jugendlichen mit aufzunehmen. 

So können wir mit unserem Sprachgebrauch zeigen: Du und deine Wortwahl sind wichtig! Wir definieren nicht, was korrekt ist, sondern wir lassen uns aufeinander ein. Es geht immer darum eine gute Balance zu halten, in der man bei sich bleibt und in die Sprachwelt der Jugendlichen eintaucht. Schön ist es, wenn die Jugendlichen darauf eingehen und die sprachlichen Angebote aufnehmen. Dann haben sie nicht nur ihren Wortschatz erweitert, sondern auch gleich einen neuen Zugang zur Sprachwelt “Liebe, Sexualität und Gesundheit” bekommen. Denn es macht einen riesigen Unterschied, ob ich beispielsweise sage, dass jemand “sauber” ist, um zu sagen, dass die Person keine STIs hat oder, ob ich sage “XY hat einen STI-Test gemacht und hatte ein negatives Ergebnis”. Ersteres ist sehr abwertend, letzteres ist einfach eine sachliche Information ohne Stigmatisierung.

Erwachsene haben die Verantwortung, ihre Sprache sensibel zu wählen und Jugendliche nicht zu überfordern. Wenn Jugendliche sich immer mehr zurückziehen, weil man etwa Schamgrenzen ausgereizt hat, müssen sich Erwachsene zurückzunehmen und den Raum lesen bzw. die Stimmung erkennen oder abfragen. Der Raum muss freiwillig sein und sollte auch verlassen werden können. Denn es ist wunderbar, wenn Jugendliche ihre eigenen (Scham-)Grenzen erspüren und für sich einstehen und gehen.  

Wir arbeiten mit einem sogenannten Peer-to-Peer Ansatz. Dabei sprechen junge Erwachsene mit Jugendlichen auf Augenhöhe. Sie sind fast gleichaltrig und können deshalb oft freier und “unter sich” sprechen. Die Atmosphäre ist dann eher wie ein Gespräch mit einem älteren Geschwisterkind und nicht wie mit den Eltern oder einer Lehrkraft.  

Speziell für den Bereich Sprache, HIV und sexuell übertragbare Infektionen (STI) sind ein paar spezielle Hinweise wichtig: 

  • Wir reden grundsätzlich von “Menschen, die mit HIV leben”, nicht von “Infizierten”. 
  • “HIV-positiv sein” heißt nicht “krank sein”
  • HIV und Aids sind nicht das gleiche! Eine HIV-Infektion muss nicht in einer Aids-Erkrankung enden. HIV ist das Virus, welches unbehandelt eine Aids-Erkrankung auslösen kann. Wer Zugang zu Medikamenten hat, bekommt heute kein Aids mehr. Wer an Aids erkrankt ist, weil eine frühzeitige HIV-Diagnose gefehlt hat, kann mit der richtigen Behandlung wieder in einen gesünderen oder gesunden Zustand kommen. 
  • Übertragungswege: Bei penetrativem Vaginal oder Analsex, bei Blut-Blut Austausch (z.B. bei gemeinsamer Nutzung von Spritzbesteck bei intravenösem Drogenkonsum) und beim Stillen kann HIV von einer HIV-postiven auf eine HIV-negative Person übertragen werden.  
  • Es heißt “Safer-Sex” und nicht “Safe-Sex”: Sex ist nie sicher – so wie leben an sich nicht sicher ist. Wir können Kondome nutzen oder regelmäßige HIV-Tests oder die PREP nehmen, um die Übertragungswahrscheinlichkeit zu reduzieren. 

>>Es ist wunderbar, wenn Jugendliche ihre eigenen (Scham-) Grenzen erspüren und für sich einstehen.<<

Wie reagiere ich, wenn HIV und Aids den Jugendlichen viel Angst machen und sie hemmen?
No risk no fun wäre jetzt die flappsigste Antwort. Das klingt vielleicht erstmal unsensibel, aber da steckt viel Wahres hinter: Es gibt keinen absolut sicheren Sex, genauso wie es keine absolut sichere Art gibt Fahrrad zu fahren. Wir fahren ja nicht alle mit Helm Fahrrad. Haben Jugendliche viel Angst und Sorge um das Thema sexuell übertragbare Infektionen, können zwei Dinge wichtig sein: 

  1. Mehr Gespräche führen, mehr Informationen einholen und dadurch Sicherheit gewinnen – auch mit den Sexualpartner*innen.
  2. Wartet ab und horcht in euch hinein. Niemand muss je Sex haben. Es ist völlig in Ordnung keinen Sex zu wollen oder warten zu wollen, bis man sich breit oder sicherer fühlt. 

Sobald ich sexuell aktiv werde, gibt es auch die Verantwortung, mich mit Sexualpartner*innen über STIs zu unterhalten, Kondome einzukaufen und/oder Verhütungsmöglichkeiten gemeinsam zu besprechen, einen Termin beim Hautarzt/beim Gesundheitsamt oder auch bei der Berliner Aids-Hilfe e.V. für eine STI-Untersuchung zu buchen und so weiter. Das kann für einige noch zu viel sein. Wir können als Erwachsene und Pädagog*innen dahingehend unterstützen, dass wir Ängste, Scham und Unsicherheiten ansprechen und normalisieren. Wir können mit den Jugendlichen darüber sprechen, wo und wie sie sich Hilfe holen können und wo sie Ansprechpartner finden. 

Scham und Angst sind aber nicht nur Themen von Jugendlichen: Auch erwachsene Menschen sitzen bei uns mit schlotternden Knien in der Testberatung. Unser Ziel ist, über unsere Workshops Jugendliche darin zu befähigen, Risiken besser einschätzen zu könnten und für sich informierte Entscheidungen treffen zu können.

Um Jugendliche zu empowern bedarf es von Erwachsenen auch etwas Arbeit: Sie müssen ihre eigenen Ängste, Sorgen und Vorbehalte gegenüber dem Thema HIV und Aids aufarbeiten. Wir sind mit anderen Bildern von HIV aufgewachsen als die Jugendlichen heute. Um die eigene Haltung zu reflektieren, lohnt sich ein Gedankenexperiment: Wie wäre es, wenn ich HIV-positiv wäre? Würde ich es meinen Eltern sagen? Wie würde ich es mit meinen Freunden besprechen? Solche Gedankenspiele helfen dabei, eigene Hemmungen oder Ängste aufzeigen, um sie dann reflektieren zu können.

Ganz wichtig: HIV ist zwar der VIP unter den sexuell übertragbaren Infektionen, aber es ist nicht die Infektion, die bei Jugendlichen in Berlin am häufigsten zu beobachten ist. Hier sind besonders Chlamydien und Gonorrhoe auch bekannt als Tripper wichtig. Beides sind bakterielle Infektionen, die leicht über Schleimhautkontakt übertragbar sind (also z.B. beim Petting/rummachen). Diese Infektionen können einfach mit Antibiotika behandelt werden. Wichtig ist dafür eine Diagnose. Wir stellen in unseren Workshops häufig fest, dass besonders diese Infektionskrankheiten, die eigentlich für unsere Jugendlichen so wichtig sind, überhaupt gar nicht bekannt sind. Hier versagen wir als System.

>>Um Jugendliche zu empowern bedarf es von Erwachsenen auch etwas Arbeit: Sie müssen ihre eigenen Ängste, Sorgen und Vorbehalte gegenüber dem Thema HIV und Aids aufarbeiten.<<

Welche Vorurteile halten sich hartnäckig und müssen endlich mal über Bord geworfen werden?
Ein Vorurteil, was sich hartnäckig hält, ist das HIV das gleiche wie Aids ist und somit den sicheren Tod bedeutet. Manche Gruppen assoziieren HIV auch immer noch vor allem mit homosexuellen Männern – auch das ist absoluter Quatsch.  Weltweit gesehen sind vor allem junge Frauen von HIV betroffen.

Ein weiteres Vorurteil, was ich hartnäckig halt, ist die Idee, dass man HIV bekommt, weil man sehr viele wechselnde Sexpartner*innen hat. Auch das ist natürlich kompletter Unsinn und sagt viel über unsere verstaubte Sexualmoral aus. Es kommt nicht darauf an, wie viele wechselnde Sexpartner*innen ich habe, sondern auf welche Art und Weise ich Sex habe und wie ich mich vor STIs schütze. Für eine HIV-Übertragung reicht einmal Sex mit einer Person. 

Wenn ich also jemand bin, der viel Sex hat und sich regelmäßig testen lässt, mit Sexpartner*innen über Schutz spricht, der vielleicht die Prep nimmt und/oder Kondome und Lecktücher nutzt, dann bin ich sehr viel besser aufgestellt, als jemand der wenig Sex hat und sich nicht schützt. 

Eine HIV-Infektion führt oft zu abwertenden Zuschreibungen, wie z.B. Promiskuität, Drogengebrauch und andere gesellschaftlich stigmatisierte Verhaltensweisen. Deswegen ist HIV auch ein wunderbares Thema, um generell über das Thema von Stigma, Diskriminierung und Ausgrenzung zu sprechen. 

Ein letztes großes Vorurteil, was unbedingt in die Mülltonne gehört, ist, dass Sex mit einer HIV-positiven Person dahingehend gefährlich ist, dass man eine Ansteckung riskiert. Das wäre nur dann der Fall, wenn die Person keine HIV-Medikamente nehmen würde. 

Wir sagen immer, dass es aus reiner Schutzperspektive nichts “sichereres” gibt, als mit einer HIV-positiven Person, die ihre Medikamente nimmt, zu schlafen. Denn bei allen Personen, die (vermeintlich) HIV-negativ sind, könnte eine HIV-Infektion vorliegen, ohne dass sie es wissen. Wie wirksam HIV Medikamente sind, zeigen mehreren Studien: Auf der ganzen Welt wurde untersucht und bestätigt, dass ein Paar bei dem eine Person HIV-negativ ist und die andere HIV-positiv, aber passende anti-retrovirale Medikamente nimmt, gesehen 500 Jahre lang jeden Tag Sex haben müsste, damit es überhaupt eine statistische Wahrscheinlichkeit gibt, dass sich die HIV-negative Person mit HIV angesteckt. 


(1): https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/H/HIVAIDS/Eckdaten/EckdatenDeutschland.pdf?__blob=publicationFile

Bildnachweise:
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