Niemand ist davor geschützt, seine Wohnung zu verlieren

AUS DIE MAUS in einer Corona-Fassung wieder im Spielplan

Seit dieser Woche ist auch AUS DIE MAUS – unser Kinderstück zum Thema „Obdachlosigkeit“ – in einer Corona-Fassung in unserem Spielplan. Zur Uraufführung im September 2016 hatten wir mit dem Obdachlosen-Magazin STRASSENFEGER eine gemeinsame Sonderausgabe zum Stück herausgebracht. In einer Vielzahl von Artikeln und Beiträgen wird das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet, sowie Einblicke in die Entstehung des Stücks gegeben. So berichtet Autorin und Regisseurin Nadja Sieger – sie ist auch Kabarettistin und Teil des weltweit bekannten Schweizer Clowns-Duos URSUS UND NADESHKIN – von der Recherche im Kältebus und von der Bedeutung von Humor bei schweren Themen. Schauspielerin Regine Seidler und Schauspieler Frederic Phung lassen teilhaben an der Entstehung des Stücks und der Entwicklung der Figuren, unsere Theaterpädagogik berichtet von einem Besuch mit Kindern im Obdachlosen-Café. Das und noch vieles mehr gibt es zum Nachlesen in der Sonderausgabe es STRASSENFEGER.

Aber kann und muss man Kindern das Thema überhaupt erklären? Und falls ja, wie? Diese und andere Fragen zum Thema haben wir Prof. Dr. Susanne Gerull gestellt, sie Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit den Schwerpunkten Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungslosigkeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin:

Was sollte man Kindern (und vielleicht überhaupt allen Menschen) unbedingt erklären, um zu verstehen, was es bedeutet in Berlin ohne Wohnung zu sein?

Kinder verstehen mehr, als wir Erwachsene manchmal denken. Sie sehen vielleicht jemanden auf einer Parkbank schlafen, oder leben in der Nähe eines Wohnheimes. Sie erleben, wie eine Wohnung in ihrer Nachbarschaft vom Gerichtsvollzieher geräumt wird. An dieses eigene Erleben kann man anknüpfen. Dies gilt auch für Erwachsene, die sonst nichts mit dem Thema Wohnungslosigkeit zu tun haben. Man kann konkrete Fragen stellen: »Wo könntest du für dich wichtige Dinge wie Schulsachen und Spielzeug unterbringen, wenn du mit deiner Familie keine Wohnung mehr hättest? Wo würdest du dich waschen? Wie und wo triffst du deine Freund_innen?« Das kann hilfreicher sein als Dinge zu erklären.

Sie haben mal gesagt: Jeder kann wohnungslos werden, aber nicht in jeder Situation. Was meinen Sie damit?

Niemand ist davor geschützt, seine Wohnung zu verlieren. Eigenbedarfskündigungen, zu hohe Mieten, Überschuldung – das kann fast jeden treffen. Die meisten Menschen haben aber genügend Ressourcen, um sich selbst zu helfen oder ihre Familie und Freund_innen um Hilfe zu bitten. Sie gehen zum Gericht und beantragen eine Räumungsfrist. Sie beantragen Wohngeld oder Sozialleistungen. Sie finden vorübergehend ein Untermietzimmer, bis sie eine neue passende Wohnung gefunden haben. Wenn aber ein kritisches Lebensereignis wie der Verlust der Arbeit in einer Situation passiert, in der schon andere Dinge schief gelaufen sind, dann sind diese Ressourcen oft nicht mehr da. Die Partnerin hat sich vielleicht gerade getrennt, es flattern Mahnungen wegen unbezahlter Rechnungen ins Haus, man trinkt mehr, als man sollte. Dann wird manchmal der Kopf in den Sand gesteckt, bis die Wohnung weg ist.

In unserem Stück geht es um eine obdachlose Frau. Was ist bei Frauen anders als bei Männern, wenn es ums Thema Obdachlosigkeit geht?

Frauen sind oft besser in der Lage als Männer, sich Hilfe zu holen. Sie verlieren seltener ihre Wohnung wegen MietProf. Dr. Susanne Gerull, Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit (Quelle: GRIPS Theater)

schulden, weil sie auf die Mietzahlung besser acht geben oder rechtzeitig zum Sozialamt oder Jobcenter gehen, wenn das Geld knapp wird. Auf der anderen Seite ist die Scham oft größer, wenn sie ihre Wohnung doch einmal verloren haben. Sie leben oft lieber »verdeckt« wohnungslos, als beim Sozialamt nach einer vorübergehenden Wohnungslosenunterkunft zu fragen. Oftmals landen sie in sogenannten »Zwangspartnerschaften«, daher, Männer nutzen ihre Notlage aus und lassen sie für »Gegenleistungen« wie das Putzen der Wohnung oder sexuelle Gefügigkeit bei sich wohnen.

Wir machen politisches Theater. Wir wollen mit künstlerischen Mitteln eine öffentliche Debatte anschieben und mit »Aus die Maus« möchten wir das Thema Obdachlosigkeit, bei dem unsere ganze Gesellschaft am liebsten weg schaut ins Bewusstsein holen – über das emotionale Erlebnis Theater schauen. Welcher gesellschaftlichen Frage müssten wir uns dabei Ihrer Meinung nach unbedingt stellen?

Wie gehen wir als einzelne Menschen, aber auch als Gesellschaft insgesamt, mit Menschen um, die in eine solche Notlage geraten sind? Gucken wir betont weg, wenn wir einen wohnungslosen Menschen sehen? Welche Vorurteile stecken in unseren eigenen Köpfen? Reagieren wir auf Diskriminierungen durch Dritte, zum Beispiel in der U-Bahn, wenn sich jemand abfällig über einen offensichtlich wohnungslosen Menschen äußert? Wo und wie verlangen wir von den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, sich dem Thema Wohnungslosigkeit zu stellen und angemessene Hilfen zur Verfügung zu stellen?

Wer STRASSENFEGER e.V. unterstützen will, findet hier alle Informationen: https://strassenfeger.org