Interview: Claudius Baumann von „Kreidestaub“ über Schule als Stressspirale

Es ist Oktober 2021 und die Uraufführung von Rinus Silzles Theaterstück „Stecker ziehen“ steht kurz bevor.
Regisseur Jochen Strauch, Schauspieler*innen und Team sind auf der Zielgeraden in die Endproben geradewegs auf die Uraufführung am 28. Oktober 2021 zu. Thema: Schulstress in der Grundschule!

GRIPS Theaterpädagoge Fabian Schrader sprach im Rahmen der Produktion mit Claudius Baumann, angehende Lehrkraft und Teil der studentischen Initiative „Kreidestaub“ über Leerstellen im Lehramtsstudium, eigene Gestaltungsspielräume und die Frage, ob man als Lehrer*in allen Erwartungen gerecht werden kann.

Du stehst kurz davor, als Lehrer tätig zu werden – inwieweit hat dich dein Studium auf den anstehenden Schulstress vorbereitet?
Ehrlich gesagt nicht wirklich. In meinem Studium kamen Themen wie Stressprävention, Burnout-Gefahr oder Selbstfürsorge quasi nicht vor, außer mal in einer Seminarsitzung bei einer sehr engagierten Dozentin und als Beispielthema für Forschungsfragen. Hier gibt es sicher eine große Leerstelle im Studium, da sowohl aus der Forschung als auch aus der Praxis bekannt ist, wie belastend und stressig der Schulalltag sein kann.
Im Studium steht aber vor allem die Unterrichtsqualität im Fokus. Das ist ein zentraler Bestandteil des Berufs, aber ich denke die Rolle einer Lehrkraft ist heute so vielfältig, dass das Studium die Lehrkräfte auch auf die verschiedenen Anforderungen vorbereiten müsste – eben auch den Umgang mit Stress.
An Lehrkräfte werden viele verschiedene Erwartungen und Anforderungen herangetragen, z.B. von Schüler*innen, Eltern, Kolleg*innen, den Rahmenlehrplänen oder von einem selbst, da kann sich schnell ein Gefühl von Überforderung einstellen. In meinem Praxissemester habe ich erlebt, dass man gerade als Berufsanfänger*in mit der Planung nur einer einzigen Stunde Unterricht sehr viele Stunden zubringen kann. Hier wäre es zum Beispiel total wichtig, dass im Studium thematisiert wird, wie mit den zurecht hohen Erwartungen an Lehrkräfte und ihre Arbeit und den gleichzeitig häufig schwierigen Verhältnissen – zu wenig Personal, keine multiprofesionellen Teams, keine Supervision, zu wenig feste Zeiten für Teamarbeit oder bürokratischen Anforderungen – individuell umgegangen werden kann.

Muss sich Schule verändern? Wenn ja, inwiefern und zu wessen Wohl?
Natürlich muss sich Schule vor allem zum Wohl der Schüler*innen verändern! Besonders aus einer Bildungsgerechtigkeitsperspektive ist eindeutig, dass es große Veränderungen braucht. Diese Veränderungen müssen immer mit dem Ziel verknüpft sein, allen jungen Menschen eine gute Bildung zu ermöglichen, ganz gleich welchen Hintergrund sie haben.
Für Schüler*innen sollte ihre Schule immer ein möglichst sicherer Ort sein, der frei von Angst und Druck ist. Es ist eine Aufgabe für die gesamte Schule, eine Schulkultur zu etablieren, die das Wohlbefinden der Schüler*innen völlig unabhängig von Leistungen und Lernen ernst nimmt und unterstützt. Ich halte das für eine ganz zentrale Haltung.
Bezogen auf den Unterricht braucht es viel mehr individualisierten Unterricht und eine Abkehr von Ziffernoten (mindestens bis zum Ende der Sekundarstufe I). Denn Menschen lernen in unterschiedlicher Geschwindigkeit und sollten dieses Tempo selbst bestimmen, um nicht ständig in Stress zu geraten.
Außerdem sollten Lehrer*innen für Schüler*innen auch Ansprechpersonen sein und die Sorgen und Nöte von jungen Menschen mit im Blick haben. Gleichzeitig brauchen Schüler*innen auch Ansprechpartner*innen neben ihren Lehrkräften, also zum Beispiel Schulpsycholog*innen oder Sozialarbeiter*innen.
Um einen solchen sicheren Raum zu schaffen, brauchen aber auch die Menschen Veränderungen, die in Schule arbeiten. Wichtig wären beispielsweise feste Zeiten für Teamarbeit, mehr strukturelle Kooperation und regelmäßige Reflexionsformate, um sich mit stressigen, herausfordernden Situationen auseinanderzusetzen und Lösungen zu finden 

Welches innovative Lernen ist jenseits des Paukens und des Frontalunterrichts möglich und vielleicht schon erfolgreich erprobt?
Es gibt viele verschiedene Formen innovativen Lernens, die sicher Stress reduzieren können, z.B. Wochenplanarbeit oder Projektlernen. Zentral ist dabei, dass junge Menschen individualisiert, d.h. in ihrem eigenen Tempo und möglichst selbstbestimmt, lernen. Es gibt viele Schulen, die solche Lernformen erfolgreich umsetzen. Allerdings ist es wichtig anzuerkennen, dass selbstbestimmtes Lernen an sich schon voraussetzungsreich ist und deshalb auch eingeübt werden muss – sonst kann es genauso Stress verursachen wie Frontalunterricht. Hier liegt in meiner Wahrnehmung häufig ein Missverständnis, wenn offener Unterricht als grundsätzlich geeigneter im Vergleich zu Frontalunterricht bezeichnet wird. Entscheidend ist, dass sich der Unterricht bzw. das Lernen an den Lernenden orientiert und deren Bedarfe ernst nimmt.
Was es auch schon in der Praxis gibt, sind alternative Formen der Leistungsbewertung und individuellen Rückmeldung: Kompetenzraster, Portfolioarbeit, selbst-terminierte Tests und Prüfungen, institutionalisierte Schüler*innen-Lehrer*innen-Eltern-Gespräche oder das Führen eines Lerntagebuchs. Mit Hilfe solcher Formate können Ziffernoten vermieden werden und stattdessen eine konstruktive und wertschätzende Form der Leistungsbeurteilung erfolgen. Bei solchen Formaten gelingt es viel besser eine konstruktive, d.h. individuelle oder kriteriale Bezugsnorm, anstatt der destruktiven sozialen Bezugsnorm anzulegen. 

Foto: David Baltzer / bildbuehne.de

Wo hat jede Lehrkraft eigenen Gestaltungsspielraum, um Schule anders zu machen?
Ich denke hier gibt es verschiedene Ebenen, die unterschiedlich leicht zu verändern sind und bei denen es ganz wichtig ist, als Lehrkraft alle im Blick zu behalten. Sonst droht schnell Überforderung oder Stress.
Der erste Punkt ist die pädagogische Beziehungsarbeit. Als Lehrkraft kann ich im persönlichen Umgang deutlich machen, dass ich Schüler*innen respektiere, ihre Anstrengung sehe und für sie ansprechbar bin. Diese pädagogische Beziehungsarbeit muss gelernt werden und ist mit einer professionellen Haltung verbunden.
Eine zweite Möglichkeit besteht in der Planung und Gestaltung des eigenen Unterrichts: Mit viel individualisiertem Lernen und dem Ausnutzen der Freiheiten der Rahmenlehrpläne kann ich Unterricht unglaublich vielfältig gestalten. Das größte Hindernis dabei: die mangelnde Zeit! Denn guter Unterricht erfordert viel Zeit in der Planung, die ehrlicherweise im Alltag schlicht nicht vorhanden ist. Hilfreich kann es sein, sich Verbündete zu suchen (das gilt letztendlich für alle Veränderungen, die man anstoßen möchte) und z.B. gemeinsam Unterricht zu planen oder sich gegenseitig zu beraten und zu unterstützen.
Der dritte Aspekt bezieht sich auf die Schulebene, denn allein geht es nicht! Neben den angesprochenen zwei Punkten kann man sich dafür einsetzen, dass sich die gesamte Schule mit einem bestimmten Thema auseinandersetzt. Zum Beispiel bei Fortbildungen, dem Festlegen eines Schulentwicklungsschwerpunktes oder in der Gremienarbeit. Hier kommt der Schulleitung eine besondere Rolle zu. So könnte man zum Beispiel das Thema Wohlbefinden und Stressprävention als Schulentwicklungsschwerpunkt für ein Schuljahr auswählen und mit allen Beteiligten Ideen, Maßnahmen und Visionen für die eigene Schule entwickeln und umsetzen.

Was können Lehrkräfte selbst machen, um Druck vom Kessel zu nehmen – bei sich selbst und auch bei Ihren Schüler*innen?
Wenn ich jetzt mal nicht auf die strukturellen Fragen schaue, sondern auf die einzelnen Personen, denke ich vor allem an die Selbstfürsorge. Auf sich selbst zu schauen, mitzubekommen, wenn es mir nicht gut geht oder ich gestresst bin und dann etwas für mich zu tun… All das ist sehr zentral, um in den schulischen Anforderungen nicht zu versinken – sowohl für Lehrer*innen als auch für Schüler*innen. Dabei sind die Lehrer*innen auch in der Rolle und Verantwortung, Schüler*innen diesen Raum zu geben und es zu akzeptieren, wenn „mal nichts geht“.
Für Lehrkräfte ist es außerdem wichtig sich immer wieder vor Augen zu führen, in welchem Spannungsfeld sie möglicherweise arbeiten: Sie wollen für alle ihre Schüller*innen das Beste, arbeiten aber in einem System, dass ihnen häufig nicht die Ressourcen und Strukturen bietet, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Insofern muss man sich als Lehrkraft auch mal von den Erwartungen und Themen anderer abgrenzen und für sich sorgen.
Das mag manchmal egoistisch erscheinen, ist es aber überhaupt nicht! Denn letztendlich können nur gesunde Lehrer*innen auch gute Arbeit machen und nur gesunde Schüler*innen gut lernen.

Wenn du Bildungssenator wärst, welche drei Dinge würdest du am liebsten verändern? 
Als allererstes würde ich eine große Ausbildungsoffensive für pädagogisches Personal starten! Es herrscht ein dramatischer Mangel in verschiedenen pädagogischen Berufen, der ganz viele mögliche Veränderungen torpediert. Mehr Zeit für Team- und Beziehungsarbeit oder feste Zeitkontingente für Unterrichtsentwicklung und Schulentwicklung wird es nur geben, wenn mehr pädagogisches Personal an den Schulen ist, deshalb müssen die Ausbildungskapazitäten für Lehrkräfte, Erzieher*innen, usw. ausgebaut werden.
Außerdem würde ich Diskriminierung bekämpfen. Also eine Antidiskriminierungsstelle einrichten, die über klare Weisungsbefugnisse und Kompetenzen verfügt, Gebäude barrierearm umbauen und massiv in die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften zu diesem Thema investieren.
Beim dritten Punkt träume ich mal ein bisschen, denn dafür muss sicher noch lange gekämpft werden: Ich würde das Gymnasium abschaffen und zu einer Gesamtschule für alle bis zur 10. Klasse übergehen.
Alle Veränderungen wären immer orientiert an dem Ziel, Bildungsungerechtigkeit zu verringern!


Kreidestaub ist eine studentische Initiative zur Verbesserung der Lehrkräftebildung. Seit 2013 vernetzt sie junge Menschen, die den Anspruch haben, ‚gute Schule‘ zu machen. Denn: Für gute Lehrkräfte braucht es eine gute Lehrkräftebildung. Deshalb setzt sich Kreidestaub für eine Lehrkräftebildung ein, die angehende Lehrende befähigt und ermutigt, Schule aktiv und kooperativ zu gestalten und so zu einer demokratischen, inklusiven und solidarischen Gesellschaft beizutragen. Mehr Infos unter: www.kreidestaub.net

Alle Termine, Infos und Karten zu „Stecker ziehen“ gibt es auf unserer GRIPS Homepage.