„Stecker ziehen“: Regisseur Jochen Strauch im Interview

Es ist Oktober 2021 und die Uraufführung von Rinus Silzles Theaterstück „STECKER ZIEHEN“ in Regie von Jochen Strauch steht kurz bevor. Passend zum Stück, dass Schulstress von Grundschüler*innen in den Fokus nimmt, hat Dramaturgin Ute Volknant Regisseur Jochen Strauch nach Situationen befragt, die ihm so richtig Stress bereiten, und auch, was es mit dem Stress von Viertklässlern auf sich hat.

Was macht dir so richtig Stress?

Ich kriege Stress, wenn ich wütend werde. Und wütend werde ich, wenn ich eine Situation oder ein Erlebnis als ungerecht bewerte oder als aussichtslos, als hoffnungslos. Wut als Gefühl ist oftmals ja ein Cover über etwas anderem, über Traurigkeit oder Verzweiflung und Wut wehrt das ganz gut ab. Wenn ich in Wut gerate, dann habe ich nicht mehr soviel Optionen, um Situationen zu bewältigen oder kreative Lösungen auszudenken, weil ich in einen Tunnel gerate, wie in eine persönliche Echokammer: Warum ist das jetzt gerade passiert, das kann ja wohl nicht wahr sein?

Ziemlich behämmerter Gedanke, denn: Wenn es passiert ist, dann ist es Realität gewesen, was bringt es jetzt, es nicht erlebt haben zu wollen? Oder anders, besser, angenehmer? Manchmal passieren halt ungerechte und bescheuerte Dinge.

In „Stecker ziehen“ erleben wir Viertklässler, die Stress haben in der Schule. Was macht ihnen so zu schaffen?

Aus meiner Perspektive ist der vordergründige Stress im Bewertungssystem verankert, im Vergleichen, Bewertbarmachen und diesem ganzen frühen Ansetzen eines brutal-hierarchisierenden Leistungssystems. Aber dahinter lauert für mich der viel aufregendere Stress: Die Welt der Erwachsenen ist in unserem Stück für mich überfordert, ignorant, vernachlässigendes, überkontrollierend, mit anderen Worten: Die „Kids“ sind komplett auf sich gestellt, während sie schlimme Erlebnisse und Anforderungen verarbeiten müssen. Fast wie eine Heldenreise, Vier brechen auch, um das Stressmonster zu besiegen. Da hört selten mal eine*r zu, geschweige denn, dass mit Rat und Tat zur Seite gestanden oder eingegriffen wird. Zum Glück ist das ziemlich lustig erzählt, meistens zumindest. Denn so wie ich es jetzt beschreibe wäre das doch ganz schön deprimierend.

Obwohl… eigentlich funktioniert die gesamte Harry-Potter-Erzählung so: Junge Menschen kämpfen gegen eine schier undurchschaubare, sich ständig wandelnde, durchaus feindliche Aussenwelt. Und überleben durch ihre Verbindung zueinander, durch das Gemeinsame.

Was oder wer hat dir während deiner eigenen Schulzeit am meisten Stress gemacht?

Ich erinnere mich an eine Mathe-Lehrerin (natürlich, da kommt’s her, jetzt ham wir’s!), die mich in der Grundschule immer mit dem Mathebuch geohrfeigt hat (Hardcover), wenn ich mich verrechnet habe. Als meine Eltern es dann kapiert haben, dass ich da nicht mehr so gerne hin gegangen bin, haben sie die Lehrerin angerufen und konfrontiert und dann sind wir zu der nach Hause gefahren – und das war dann eine schwerhörige Omi, die oftmals die Hörgeräte zuhause vergessen hatte. Und auch gar nicht vollausgebildet als Lehrerin war. Es gab halt damals schon Lehrermangel. Ich bin 1971 geboren, das müsst ihr Euch jetzt selber ausrechnen. Von wegen Mathe und so.

Im Stück erleben die Kinder Schule als eine potentiell krank machende Spirale von Bewertungssystemen. Als Regisseur wird deine Arbeit sogar öffentlich bewertet. Gewöhnt man sich daran?

Ja klar. Das wäre ja sonst sehr schlimm, wenn ich im Alltag meines Berufes ständig Stress und Angst empfinden würde. Ich stresse mich über Kritiken gar nicht. Ich freue mich darauf, wenn eine Arbeit fertig ist. Das ist doch das Tollste an unserem Beruf, wie bei der Tischlerei, am Ende steht ein fertiges Stück auf der Bühne, das ist scheinbar abgeschlossen, das kann man ansehen. Wenn Kritik ernst gemeint, klug gedacht und respektvoll geäußert wird, dann ist sie immer bereichernd, weil es etwas zu verstehen und zu lernen gibt.

Wie gehst du inszenatorisch mit dem Thema Stress um? 

Wir haben uns räumlich* und gedanklich ein paar stressige Elemente ausgedacht: Das Modulare Baukastensystem des Bühnenbildes verführt dazu, dass ständig neue Räume aufgebaut werden (müssen). Ich lasse das die Spieler*innen als Figuren machen, das können sie dann gleich schon für einen Wettkampf nutzen, das macht sie körperlich wach und treibt ihren Atem und Muskeltonus hoch. Da ist es dann fast herausfordernder, beim Spielen nicht wirklich unter Stress zu geraten, sondern immer wieder auch (handwerklich) ruhig von Szene zu Szene die Anforderungen zu bewältigen, die uns das Stück abfordert: Schnelle Rollenwechsel oder Ortswechsel.

Im zweiten Teil wird der Boden mittels der Kisten zum Stressfeld, auf dem keine Sicherheit mehr zu finden ist, und alles wird eine Frage der eigenen Balance. Ich habe also in die Grundanlage der szenischen Struktur sprechende Bilder und körperliche Zustände veranlagt, die auch mit einer Wahrheit der Stressforschung umgehen: If you see red, you can‘t even think of green. Wie finden wir aus dem roten Bereich, einer schier ausweglosen Situation heraus? Wie können die Vier das Stressmonster besiegen? Zusätzlich wechselt sich dann auch noch Videoebene mit Bühnenspiel ab, und Musik und Sound kommt als weiterer Layer unserer Wahrnehmung dazu. Ich mag es, wenn immer wieder neue Aufgaben, Eindrücke, Bilder, Gefühle und Beziehungen auf der Bühne entstehen und nachzuerleben sind!
Das Gespräch führte Dramaturgin, Ute Volknant

Wer mehr über den Prozess der Probenarbeit von „Stecker ziehen“ wissen und erfahren möchte, dem empfehlen wir Jochen Strauchs Blog!

*Am 27. Oktober ab 10 Uhr veröffentlichen wir hierzu auch ein Interview mit Bühnen- und Kostümbildnerin Sigi Colpe.

Jochen Strauch, copyright: Peter Höhnemann

Jochen Strauch, Jahrgang 1971, ist nach dem Regiestudium u.a. an den Münchner Kammerspielen und am Deutsche Schauspielhaus Hamburg festengagiert, wo er als Dramaturg Stücke entwickelt, inszeniert und die Idee vom Jungen Schauspielhaus etabliert. Nach vielen Jahren als freischaffender Regisseur studiert er parallel zum Inszenieren an der Universität Zürich „Arts Administration“ und wird Kommunikationsexperte am Thalia Theater Hamburg. Seit 2017 arbeitet er wieder als Regisseur, z.B. am Schauspielhaus Graz oder dem Staatstheater Saarbrücken. »Stecker ziehen« ist — nach »Dschabber« (Ausgezeichnet mit dem IKARUS 2019) und »#dieWELLE2020« – seine dritte Inszenierung am GRIPS.