„Zusammenspiel: Ein Festival zu inklusivem Arbeiten im Kinder- und Jugendtheater„: Ein Bericht in fünf Erkenntnissen von Patrick Wildermann
Los! Spiel los!
Wie könnte ein Festival, das den Titel „Zusammenspiel“ trägt, passender beginnen als mit einem gemeinsamen Spiel? Oder besser: mit vielen Spielen? Noch vor der offiziellen Eröffnung dieses viertätigen Events zu inklusivem Arbeiten im Kinder- und Jugendtheater sind Phantasie und Zusammenhalt gefragt. „Los! Lass Los!“ heißt das Format, mit dem Oana Cîrpanu, Christina Wüstenhagen und Jugendliche des GRIPS-Clubs Banda Agita den Teilnehmenden einen Energie-Boost zum Start verpassen. Die Prämisse: Die jungen Menschen haben ihre Kraft verloren, „helft uns, sie wiederzufinden, uns zu verbinden!“. Es gilt, sich bei Würfelspielen in Gruppen auszutauschen, gemeinsam auf eine Reise der Emotionen zu gehen, beim Rätselraten vollen Körpereinsatz zu zeigen. Und schließlich in einem kollektiven Tanz der Krafttiere den gefundenen Teamgeist hochleben zu lassen. Das ist mehr als ein Warm-up, es ist ein vitaler Ausdruck der Festival-Philosophie: echte Begegnung braucht Offenheit und die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen.
Das Spiel wird sich als roter Faden durch die folgenden Tage ziehen, vor allem durch die große Zahl an Workshop-Formaten, in denen die verschiedensten Facetten des inklusiven Arbeitens im Theater für junges Publikum erkundet, erprobt und weitergedacht werden. Fast immer steht am Anfang die Lust, zur Gruppe zu werden, sich kennenzulernen, kleinere und größere Hemmnisse abzuwerfen und im Spiel herauszufinden, was die gemeinsame Motivation dafür ist, sich auf Zeit einen Raum zu teilen und daraus andere und größere Möglichkeitsräume entstehen zu lassen.
Das Festival „Zusammenspiel“ markiert den Abschluss einer fast dreijährigen Kooperation zwischen dem Theater Thikwa und dem GRIPS Theater, gefördert durch das Programm für inklusive Kunstpraxis „pik“ der Kulturstiftung des Bundes, dessen Leiter Steffen Sünkel bei der Eröffnung formuliert, worum es dabei im Kern ging, nämlich „sich auf einen gemeinsamen Weg zu machen, um voneinander zu lernen.“ Wie das geglückt ist, zeigt das Festival. Aus der Zusammenarbeit zwischen Thikwa und GRIPS ist nicht nur die große Ensembleproduktion „BUMM, KRACH, BOING!“ hervorgegangen, die als eine von vier Inszenierungen beim Festival gezeigt wird, ergänzt durch eine filmische Dokumentation mit Blicken hinter die Kulissen. Vielmehr hat der Prozess des Zusammenwachsens der beiden Theater auch abseits des Rampenlichts eine Reihe von Erkenntnissen über das inklusive Arbeiten hervorgebracht, die an diesen vier Tagen geteilt werden. In Gesprächsrunden, Workshops, Übungen, Reflexionen über neue Erzählweisen oder auch einfach bei der gemeinsamen Party.
Die vielleicht wichtigste Voraussetzung für das Gelingen des „Zusammenspiels“ bringen die Thikwa-Leiterin Laura Besch und der GRIPS-Leiter Philipp Harpain auf den Punkt: es gab keinen Zwang und keinen Produktionsdruck. So wie am Anfang der Inszenierung „BUMM, KRACH, BOING!“ ein dreitätiges Kennenlernformat zwischen den Thikwa- und den GRIPS-Spieler*innen und -Macher*innen stand, das erst einmal völlig frei von Ergebniserwartungen war, ist auch das Festival schlicht aus der Lust am gemeinsamen Erfinden entstanden – ohne Vorgaben oder abzuarbeitenden Plan. Das ist der Veranstaltung anzumerken, genau deshalb geht sie so inspirierend auf. Und zeigt, welche Potenziale und Gewinne im inklusiven Arbeiten liegen, was die Bedarfe sind, welche Strukturen dafür nötig sind.
Erkenntnis #1: Inklusion braucht junge Stimmen
Was generell im Theater für junges Publikum gilt, beweist auch das Festival: Partizipation ist das A und O. Es braucht die Beteiligung und die Stimmen der Kinder und Jugendlichen, auf und hinter der Bühne, als Spieler*innen und Gestalter*innen, als Schöpfer*innen ihrer eigenen Geschichten. Im Austausch mit jungen Perspektiven können zum einen die erwachsenen Theatermacher*innen viel lernen. Und im Zusammenspiel lernen Kinder und Jugendliche auch voneinander. Wie in den inklusiven Jugendclubs von Thikwa und GRIPS.
Eine Diskussionsrunde des Festivals beginnt mit einem Dialog zwischen Laura Besch und der 14-jährigen Yolanda, die im Club Thikwa spielt. Besch stellt ihr die großen Fragen, die über dieser Veranstaltung stehen. Zum Beispiel: Wie geht gutes Theater, für Kinder, Jugendliche und Erwachsene? „Der Text sollte mit mir selbst zu tun haben“, antwortet Yolanda. Und die Sprache sollte beim Theatermachen aus einem selbst kommen. Ach ja, Humor und Spannung bräuchte es natürlich auch. Wie geht gutes inklusives Theater? „Alle müssen aufeinander achten, und von allen sollten Ideen mit ins Stück reingenommen werden.“ Wie funktioniert gute Zusammenarbeit? „Man muss Probleme ansprechen und zusammen Lösungen finden – und die anderen so behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte.“ Yolanda wird noch gefragt, wie es ist, im Club Thikwa zusammen mit Menschen mit Behinderung zu spielen. „Cool und interessant“, sagt sie. In der Schule habe sie es nur mit Gleichaltrigen zu tun, die ähnliche Meinungen hätten, ähnliche Gedanken: „Nicht gerade abwechslungsreich.“ Das Zusammenspiel mit ganz verschiedenen Menschen, die eben auch verschiedene Bedürfnisse hätten, sei „eine Erfahrung, die alle machen sollten.“
Wie selbstbewusst (und) Kinder und Jugendliche agieren, wenn ihnen Raum gegeben wird, zeigt auch der Workshop „(Mitbe)stimmen“. Der wird nämlich souverän geleitet von zwei jungen Mitgliedern des GRIPS-Clubs Rakete jetzt!, in dem Menschen zwischen 8 und 11 Jahren spielen. Die beiden beginnen den Workshop – na klar – mit gemeinsamen Spielen („Ha-Chi-Fu“ heißt eines, ein anderes „Es brennt!“), und sie stellen auch das Theaterstück „Stimme“ vor, das sie in der Regie von Jana van Beek entwickelt haben. Es erzählt davon, wie Kinder gehört oder eben nicht gehört werden, wie sie ihre Stimme erheben können, welche Wünsche sie haben und was sie ungerecht finden: „Alle Kinder sollten mehr Zeit haben“, „Eltern dürfen sich in der ganzen Wohnung streiten, wir nur in unserem Zimmer“, heißt es in einer Audiocollage aus der Produktion, oder auch: „Mich kotzt Berlin komplett an, weil die Stadt überhaupt nicht barrierefrei ist.“ Eine Szene spielt im Bundestag, wo die Kinder eine Petition für erschwingliche Handys – was bei allem Spaß auf ein zentrales Thema von „Stimme“ verweist: Kinder haben Rechte, die gesetzlich festgeschrieben sind, aber im Alltag zu selten eingeklagt werden. Und um genau diese Rechte geht es schließlich auch im Workshop „(Mitbe)stimmen“: Die Teilnehmenden improvisieren in Gruppen Spielszenen, die sich jeweils einem Kinderrecht widmen: Dem Recht, mit der eigenen Meinung ernstgenommen zu werden. Oder dem Recht auf Freizeit und künstlerische Entfaltung.
Radum für Letzteres bieten die Jugendclubs von GRIPS und Thikwa. Wobei sich die GRIPS-Clubs – wie Rakete jetzt! oder Banda Agita – vor allem im Zuge der Zusammenarbeit mit den Thikwas noch einmal inklusiver aufgestellt haben. Mehr als ein schöner Nebeneffekt. Wie so ein gemischtes junges Ensemble nicht nur auf Augenhöhe agiert, sondern sich wechselseitig im Spiel empowert, zeigt während des Festivals die Banda-Agita-Produktion „Halt“ für Menschen ab 12 in der Leitung von Oana Cîrpanu und Christina Wüstenhagen. Hier geht es um die Überforderung und die Ohnmacht, der in einer hoch beschleunigten und von Krisen geschüttelten Welt schon die Jüngsten ausgesetzt sind. In einem Spielrund, das Offenheit und Raum für alle ausstrahlt, geht es um Freizeit- und Schulstress, übervolle Terminkalender, Angst vor Krieg und Klimakatastrophe, den Sinn des Lebens – und die große Frage: Wo finde ich Halt?
Erkenntnis #2: Inklusion braucht Zeit
Vor einer anderen Frage standen alle Beteiligten zu Beginn der Stückentwicklung „Bumm, Krach, Boing!“, die im Rahmen der pik-Förderung als zweite Gemeinschaftsarbeit zwischen Thikwa und GRIPS nach „Cheer out loud“ (2019) entstanden ist: Wie bringt man zwei Ensembles mit ganz verschiedenen Ausbildungsbackgrounds und Spielweisen zusammen? Katharina Tress und Blandine Casen haben diesen Prozess mit der Kamera begleitet, die Kurzdokumentation „Bumm, Krach, Boing! – Hinter den Kulissen“ feierte beim Festival „Zusammenspiel“ ihre Uraufführung (hier ist sie auf Youtube zu sehen). Wie GRIPS-Leiter Philipp Harpain in dem Film sagt, ging es eben nicht nur darum, zusammen ein Stück zu proben, sondern sich grundsätzlich über Arbeitsweisen Gedanken zu machen: Inklusion – wie geht das? Von einem „Lernprozess mit vielen Leerstellen“ spricht der Autor und Liedtexter Erik Veenstra: „Wie behandeln wir in der Kunst Themen wie Anderssein oder Behinderung?“. Die Voraussetzung dafür bringt der Dramaturg Max Edgar Freitag vom Theater Thikwa auf den Punkt: Nicht nur zu fragen, was den Thikwas zuzutrauen sei. Sondern erst einmal zu hören: „Was wollen sie?“
Ein Learning aus dem Film – und generell aus dem Festival: Inklusion braucht Zeit. „Bumm, Krach, Boing!“, uraufgeführt im Juni 2024, ist das leuchtende Beispiel dafür, was entstehen kann, wenn Theatern die Möglichkeit gegeben wird, mit Zeit und ohne Druck aufeinander zuzugehen, sich wirklich kennenzulernen und schließlich zusammenzufinden. Bei „Cheer out loud“, erzählt Thikwa-Spielerin Rachel Rosen, hatte sie noch Berührungsängste vor den GRIPS-Kolleg*innen, es musste erstmal ein Vertrauen wachsen. „Bei ‚Bumm, Krach, Boing!‘ habe ich losgelassen.“
Mit dieser Haltung schafft die Produktion eine Spielwiese, auf der große Fragen verhandelt werden: Gemeinschaft, wie geht das? Was ist Augenhöhe, wie entstehen Gefälle? Was ist Macht, was Ohnmacht? Oder, wie es im Stück einmal heißt: „Ist Anderssein eigentlich cool oder scheiße?“ Bei der Diskussion nach der Filmpremiere mit Ensemble und künstlerischem Team erzählt die Regisseurin Sabine Trötschel, was für sie die größte Aufgabe war: „Am Anfang nicht zu viel zu wollen, den Mut zu haben, Dinge entstehen zu lassen.“ Und: Etwas zu finden, das alle Schauspielenden auf eine gemeinsame Ebene bringt. Daraus entstand ein Spiel mit Schaumstoffwürfeln, die nun im Setting von Bühnen- und Kostümbildner Klemens Kühn das zentrale Element sind – mal zur Wand gestapelt, mal als Großstadtkulisse oder Hüpfburg. Auch diese Idee durfte sich entwickeln: Am Anfang, so Kühn, gab es noch keinen Text, keinen Titel, keine Vorgaben für die Bühne. Nur das Motto „maximale Freiheit.“
„Wir hatten mehr Zeit für Umwege als normalerweise“, erzählt die GRIPS-Schauspielerin Regine Seidler, allein drei Monate dauerte die Vorprobenphase. Die brauchte es schon deshalb, um überhaupt erstmal eine gemeinsame Theatersprache zu finden, beschreibt Schauspieler Christian Giese: „Was ist eine Verabredung? Steht die nächste Woche noch?“. Thikwa-Dramaturg Max Edgar Freitag findet das Bild: „Wir wurden in die Ursuppe reingeworfen und haben zusammen schwimmen gelernt.“
Wie bereichernd die Bereitschaft sein kann, sich einzulassen und neue Wege zu gehen, das beschreibt GRIPS-Ensemblemitglied Lisa Klabunde im Film gegenüber den Thikwa-Kolleg*innen: „Ich lerne so viel von euch! Ich bin lockerer, offener, probe lieber, mag das gemeinsame Erfinden. Ich bin angstfrei.“
Das Wichtigste: dieser gesamte Prozess war mit der Premiere von „Bumm, Krach, Boing!“ nicht abgeschlossen. Torsten Knoll, der in dem Stück als Musiker auf der Bühne die Fäden zusammenhält, erzählt, dass das „Zusammenwachsen zu einer Band immer noch weiter geht.“ Die Musik baut in dem Stück die Brücken, das Ensemble erobert sich gemeinsam die Instrumente (vom Bass bis zum Klavier, von der Rassel-Banane bis zum Synthesizer) und performt Hits wie „Neurodivergent“ oder „Fabelhafte Fabelwesen“, die nicht zuletzt von einer anarchischen Energie und Spiellust leben, die auf dem Podium Thikwa-Ensemblemitglied Ismail Arslantürk zum Ausdruck bringt: „Ich spiele auch, während die anderen Pause haben, ich lasse meiner Kreativität freien Lauf.“
Diese ansteckende „120-Prozent-Energie“ des Thikwa-Ensembles – wie sie Philipp Harpain nennt – ist beim Festival auch in der Produktion „Sisterhood/Brotherhood“ zu erleben. Die Produktion, die im Setting eines Fotostudios für Momentaufnahmen spielt, beleuchtet als Konzertperformance die Kraft von Geschwisterbeziehungen und überhaupt die unsichtbaren Bande, die in (Wahl-)Verwandtschaften wirken. Das toll choreografierte Stück geht aus von Interviews der Performer*innen, von Erinnerungen an die eigene Kindheit und von Beobachtungen und Fotos berühmter Geschwister-Paare – und erzählt mit großem Ensemble (zu dem auch Schüler*innen der Schule Sankt Franziskus in Berlin zählen) von feministischer Solidarität, wortloser Verständigung und verflochtenen Wurzeln. Eben nicht nur zwischen Geschwistern. Es geht grundsätzlich um menschliche Verbundenheit, das machen die Miniaturen in „Sisterhood/Brotherhood“ immer wieder erfahrbar – unter anderem in einer Gruppenszene der gemeinsamen Schulterschlüsse.
Erkenntnis #3: Inklusion braucht Strukturen
„Inklusives Kinder- und Jugendtheater – wo stehen wir, was braucht’s?“ ist eine Diskussion überschrieben, die Fragen nach den Bedingungen all dessen stellt, was auf dem Festival zu sehen und zu erleben ist. Eine Antwort gibt auf dem Podium Milena „Miles“ Wendt: „Zeit, Geld und Strukturen.“ Kurzum: Alles, woran es im Theaterbetrieb am meisten fehlt. Miles – Access-Dramaturg*in und Berater*in zu den Themen inklusives Arbeiten und Barrierefreiheit – betont, dass beim inklusiven Arbeiten behinderte Perspektiven von Anfang an integriert und ernst genommen werden müssten: „Diese Expertise braucht Wertigkeit.“ Das bedeute für Theater vor allem, zu hinterfragen „was schon immer so gemacht wurde.“ Sechs Wochen Probe, dann Premiere – ist das ein Rhythmus für inklusives Arbeiten? Müssen sich Künstler*innen mit Behinderung an den Theatertakt anpassen – oder ist es umgekehrt? Miles sagt, der Fokus sollte bei all dem auf der Frage liegen: „Wie können sich alle Beteiligten wohlfühlen?“.
Was positiv ist: immer mehr Häuser bemühen sich tatsächlich, ihre Aufführungen zugänglicher zu machen. Zum Beispiel, indem sie Relaxed Performances anbieten, zu denen Milena „Miles“ Wendt im Rahmen von „Zusammenspiel“ auch einen Workshop anbietet („Entspannt ins Theater mit Relaxed Performances“). Ihren Ausgang nahm diese Form schon in den 1980er Jahren in den USA, der Impuls kam aus der autistischen Community. Bei Relaxed Performances geht es darum, zu erkennen, dass die normierten Verhaltensregeln im Theater Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung an vielen Stellen ausschließen – und diese Regeln so zu verändern, dass ein relaxter Theaterbesuch möglich wird. Dazu zählt zum Beispiel, sich den Platz selbst aussuchen und ihn auch während der Vorstellung wechseln zu dürfen. Oder, dass während der Vorstellung das Licht nicht vollständig erlischt, weil Dunkelheit Unwohlsein auslösen kann. Und, ein wichtiger Punkt: sensorische Reize (wie schnelle Lichtwechsel, laute Geräusche oder Einsatz von Video) werden ebenso angekündigt wie mögliche Trigger (etwa Gewaltdarstellung, Themen wie Trennung oder Krieg, diskriminierende Sprache). Kurzum: es geht darum, allen Besucher*innen eine selbstbestimmte Entscheidung zu ermöglichen: Ist ein Theaterbesuch für mich möglich?
Wieviel Zeit und Arbeit es allerdings auch benötigen kann, Vorstellungen für ein junges Publikum mit Beeinträchtigung wirklich erfahrbar zu machen, davon erzählen auf dem Podium die Choreografin und Tänzerin Julia Keren Turbahn und Jan Kress, Tauber Schauspieler, Tänzer, Performer, Choreograf und Aktivist in Berlin. Die beiden haben 2024 die Gruppe baff gegründet. Das Wort ist ein Idiom der Deutschen Gebärdensprache (DGS) und steht für etwas Unerwartetes und Überraschendes. Kennengelernt haben sich die beiden am FELD Theater für junges Publikum in Berlin, wo Turbahn eine sehr visuelle Produktion erarbeitete, von der sie dachte, sie könne sich auch für Taube Menschen eignen. Sie lud Jan Kress ein, das zu beurteilen und ihr Ratschläge zu geben – eine Woche vor Premiere. „Normalerweise viel zu kurzfristig“, sagt er. „Eigentlich müssen schon bei der Antragsstellung für ein Projekt Taube Perspektiven mitgedacht werden.“ Die Ausnahme, die Kress machte, war der Beginn einer beharrlichen Arbeit an Zugängen am FELD. Wofür es eben nicht genüge, nur am Bühnenrand das Geschehen in Gebärdensprache zu übersetzen, betont Kress. Es gehe um eine Gleichberechtigung von Laut- und Gebärdensprache auf der Bühne. „Keine Sprache ist der anderen überlegen“, betont Turbahn. Mit dieser Haltung hat das FELD nach und nach Vertrauen aufgebaut, Taube Schüler*innen oder Nachbar*innen zu Proben eingeladen, sich Feedback geholt. Und glaubhaft vermittelt: hier wird für euch gespielt.
Wie wichtig Nachhaltigkeit in der inklusiven Theaterpraxis für junges Publikum ist, das unterstreicht auch die Regisseurin Leonie Graf, die neben anderem das Residenzprogramm „Ich kann mir alles vorstellen“ für Künstler*innen mit Behinderung am Theater an der Parkaue leitet. Aus diesem Programm ist auch die Produktion „Das Spiel“ hervorgegangen, geschrieben von der Thikwa-Spielerin Rachel Rosen, die damit als Autorin sichtbar wurde. „Es braucht mehr Arbeiten von behinderten Künstler*innen und mehr Menschen mit Behinderung in Leitungspositionen“, ist Graf überzeugt. So toll einzelne Projekte seien – „Inklusion muss sich in den Theaterstrukturen verfestigen.“ Was zurückführt zu der Frage: „Wo stehen wir, was braucht’s?“. Und der Antwort: es braucht Geld, Zeit, Strukturen. Wobei zur Wahrheit auch gehört, dass in Zeiten radikaler Kulturkürzungen wie in Berlin Projekte zur Förderung von Diversität, Gender oder Menschen mit Behinderung zuerst gestrichen werden. Darauf verweist Philipp Harpain, der fordert: „Die Politik darf Inklusion nicht als ‚nice to have‘ behandeln.“
Erkenntnis #4: Inklusion schafft neue Erzählweisen
Es scheint leider noch immer nicht allen ins Bewusstsein gedrungen zu sein: Inklusives Kinder- und Jugendtheater ist keine pädagogische Maßnahme, sondern eine eigene Kunst. Eine, die immer wieder auch neue, spannende Erzählweisen hervorbringt. Ein Beispiel dafür ist das Gastspiel der vielfach preisgekrönten Produktion „Grusel“ der Gruppe pulk fiktion in der Regie von Hannah Biedermann – ein theatrales Live-Hörspiel für blinde und sehende Menschen gleichermaßen. „Ich trete vor dich“, sagen die Performer*innen, die das Publikum am Einlass in Empfang nehmen, mit Kopfhörern ausstatten und einzeln in den dunklen Theaterraum zum Platz führen. Hier öffnet sich eine Schauerwelt zum Hören und Spüren, in der es vor allem um das geht, was jungen Menschen Furcht einflößt – was aber auch für Erwachsene extrem andockfähig ist. Die Kinderstimmen auf den Kopfhörern erzählen von Vampiren, Werwölfen oder Betrunkenen, dazwischen knarzt der Holzboden, oder der Wind pfeift gespenstisch. Über die Audiospur bekommen die Besucher*innen teils auch individuelle Anweisungen, die sie zum Teil der Performance machen. Es ist ein maximal mitnehmendes Theater für alle Sinne.
Eine Chance auf die Erprobung neuer Erzählformen bietet sich aber auch im virtuellen Spiel. Davon erzählen im Workshop „Zusammenspiel(en) – Let’s play together in Augmented Reality“ Theaterpädagog*in Laura Mirjam Walter und Dramaturg Marco Aulbach. Sie stellen das Konzept für ein Augmented Reality-Spiel vor, das eine Gruppe von Thikwa-Künstler*innen gemeinsam mit einem Team aus Digitaltheater-Macher*innen entwickelt, das bereits mehrere Projekte am GRIPS realisiert hat. Der Ausgangspunkt dafür waren Überlegungen, die im Probenprozess zu „Bumm, Krach, Boing!“ aufkamen. Geld und Macht spielen eine Rolle, Macht und Politik, die Frage: wer bekommt welche Ressourcen, wem wird zugehört, wem nicht? Aus dem gemeinsamen Brainstorming ist der Plot für ein Spiel entstanden: Vier Kinder, die gemeinsam zur Schule gehen, haben eine Band gegründet und träumen vom großen Auftritt. Dem steht allerdings einiges im Wege – nicht zuletzt die Hürden, die die Erwachsenenwelt errichtet. Unter anderem soll ihr Proberaum Parkflächen weichen. Oder die Kinder müssen Geld für die Reparatur eines kaputten Instruments auftreiben. „Weil sich der Weg zum Auftritt wie eine riesige Mission anfühlt, hat das Spiel die Gestalt eines Weltraumabenteuers“, beschreibt Marco Aulbach. Über die Handykamera erscheint eine Planetenlandschaft, „die Spielenden müssen von Planet zu Planet fliegen, um sich den verschiedenen Konflikten zu stellen – und sie am Ende hoffentlich zu lösen.“ Unterwegs spielt natürlich Musik eine große Rolle, unter anderem lässt sich an einer virtuellen Percussion ordentlich Krach machen. Das AR-Game mit dem Arbeitstitel „Die beste Band der Welt“, das als Prototyp im Workshop vorgestellt wurde, zielt nicht darauf, eine lineare Geschichte zu erzählen, vielmehr bietet es barrierearm eine körperliche Erfahrung im virtuellen Raum, die ganz von der Interaktion lebt.
Erkenntnis #5: Inklusion ist ein Gewinn
„Was ich von den Thikwas gelernt habe“, zieht Philipp Harpain beim Gespräch am Rande des Festivals Bilanz, „das sind andere Sichtweisen auf künstlerische Prozesse, die mich wahnsinnig neugierig gemacht haben und noch immer machen.“ Was er mitnimmt aus der Zeit der Zusammenarbeit: „Dass wir ein gemeinsames Ensemble haben, das sehr zusammengewachsen ist und weiterhin wächst.“
Für Thikwa-Leiterin Laura Besch zählt zu den positivsten Erfahrungen, dass an vielen Stellen „ohne Produktionszwang zusammengearbeitet werden konnte.“ Eigentlich, sagt sie, sollten solche Begegnungsräume selbstverständlich sein, in denen ein Austausch ohne Druck möglich sei. „Tatsächlich gibt es das fast nie. Jede Vorproben- oder Workshop-Phase zielt schon darauf, Themen zu sammeln, die ersten Impros zu machen. Das war in diesem Fall anders.“ Das Festival „Zusammenspiel“ kulminiert für sie in der Erfahrung, „wie viele tolle und interessante Menschen es gibt, die im Bereich des inklusiven Kinder- und Jugendtheaters wichtige Arbeit leisten.“
Beide sind sich einig: „Es gibt Kraft, in so einen Austausch zu gehen.“