Gedenken für die Opfer des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma

Am 16. Dezember 2020 ist der Gedenktag an die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma. Anlässlich des 78. Jahrestages von Himmlers Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942 hat der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gemeinsam mit der Gedenkstätte Sachsenhausen an die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma erinnert.

Das GRIPS Theater möchte mit diesem Beitrag, anlässlich des Gedenktages, an die Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma, erinnern.

Am 9. November 2020 haben DIE VIELEN (ein Zusammenschluss Kulturschaffender Deutschlands) zur Kundgebung aufgerufen. „Die Vielen fordern Denkmalschutz am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas.“ Die „Deutsche Bahn“ hatte eine Bahnstrecke in Planung, die unmittelbar das Denkmal betroffen hätte. Es wären Bäume gefällt worden und das Denkmal wäre untertunnelt worden. Jetzt nach vielen öffentlichen Protesten und der Arbeit durch den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat die „Deutsche Bahn“ eingelenkt und eine Lösung gefunden, die das Denkmal unangetastet lässt.

Der Redebeitrag von Roxanna Lorraine Witt, anlässlich der Kundgebung der VIELEN, zeichnet ein eindringliches Bild davon, wie unsere Gesellschaft 70 Jahre nach dem Völkermord an Sinti und Roma mit dem Erinnern an die Greueltaten umgeht.
(Roxanna Lorraine Witt war bis Januar dieses Jahres Leiterin des Referats für Bildung beim Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma.)

Roxanna Lorraine Witt anlässlich der Demonstration von DIE VIELEN am 9.November 2020

„Und auch nach 70 Jahren noch schreien sie wieder
in unser Antlitz
Sie schreien die Wände und die Straßen an
Sie schreien gegen uns Roma
Sie schreien gegen uns Juden
Sie schreien, als wollten sie uns noch einmal auslöschen
Sie schreien, als wären wir der Grund für Seuchen, Pest und Cholera
Sie schreien, als wären wir der Grund für Krisen, Hunger und Not,
Sie schreien, als wären nicht schon Millionen von uns tot.
Und auch nach 70 jahren noch schreien sie wieder in unser Antlitz
Und meine Ahnen würden sich im Grab umdrehen wenn sie eins hätten
in Auschwitz“

Samuel Mago

Das Werk, was sie hier hören, beinhaltet in wenigen Worten alles, für das wir hier heute demonstrieren. Wir demonstrieren für den Schmerz und die tiefen Wunden, die bis heute die Herzen der
Überlebenden und ihrer Nachfahren bluten lassen. Wunden, die nie heilen konnten, weil die Gewalt,
die sie verursacht hat, bis heute nicht aus der Mitte unserer Gesellschaft getilgt worden ist.
Stumme Tränen füllen das Becken des Mahnmals für die ermordeten Sinti und Roma Europas mit
dem Wasser, das so schwarz ist wie die Leere der Augen, die sie nicht weinen durften.
Stumme Tränen sind es, die im vergangenen halben Jahr in den Augen der mutigsten Rom;nja und
Sinte;zze dieses Landes und ganz Europas zu sehen waren, als die Zeitungen davon berichteten das
ihr Lebenswerk, ihr Traum von Hoffnung auf Versöhnung und Heilung zerstört; das Grab der
Vebrannten von Auschwitz zu Asche und Staub werden soll.
Tränen können ein Symbol der Hoffnungslosigkeit, aber auch der Hoffnung sein.
Im vergangenen Jahr zum Anlass des 75. Jahrestages der Befreiung der letzten Auschwitzinsassen
stellte das European Roma Institute for Arts and Culture – ERIAC
die Austellung „Tears of gold“ – Tränen aus Gold aus und gab den Tränen die Funktion von Gold,
wie es in der japanischen Kunst des Kintsugi verwendet wird: Die Kunst, dem Zerbrochenem
neuem Leben einzuhauchen.
Auch heute sehe ich goldene Tränen fließen: Die Solidarität der Die Vielen zeigt, dass es Verbundenheit im Schmerz geben kann, dass Krisen nicht spalten müssen, sondern Nähe schaffen können. Denn während viele Kunst- und Kulturschaffende bedingt durch die Krise selbst um ihre Existenzen bangen, haben sie sich als Vereinigung heute und hier versammelt um die Existenz unseres Denkmales, dieses Mahnmales der Gesellschaft zum Gedenken an unsere gemeinsame Verantwortung zu schützen.
Die Vielen haben hier und heute vorbildlich gehandelt, denn sie haben trotz ihrer eigenen Notlage
sich dazu entschieden von ihren Privilegien als Angehörige der Dominanzgesellschaft Gebrauch zu
machen und sie mit uns zu teilen, indem sie ihre Stimme uneigennützig für uns erheben.
In der eigenen Not die Not eines anderen zu erkennen und den eigenen Anliegen gar überzuordnen
ist nicht nur vorbildlich, es ist zukunftsweisend, es ist mutig und es ist ein Zeichen von Stärke, über
sich selbst hinaus wachsen zu können. Es zeigt, dass wir keine Angst haben müssen aufeinander
zuzugehen und dass Privilegien zu teilen nicht Verlust und Schwäche bedeutet, sondern
gemeinsames Wachstum und Stärke.
Das Handeln der Vielen ist die gesellschaftliche Verantwortung, die wir uns wünschen und die
notwendig ist, den Herausforderungen unserer Zeit angemessen zu begegnen. Solidarisches
Handeln, einander zuhören und über sich hinaus wachsen, indem man die Bedürfnisse des anderen
erkennt und aufeinander zugeht sind heute wichtiger denn je, nicht nur aufgrund der Pandemie.
In Hanau starben 9 Menschen, viele weitere wurden verletzt. Ein Großteil der Verletzten und
Ermordeten waren Rom;nja und Sinte;zze, waren Nachfahren derer, dessen Grab wir verteidigen
wollen, und wurden doch Opfer derselben Ideologie, die schon unsere Vorfahren, unsere
Verwandten, Freunde und Geschwister ermordet hat. Doch diese Tatsache darf nich darüber hinweg
täuschen, dass die Attentäter nicht nach einem Ariernachweis fragten:
In Halle, wie auch in Hanau starben Deutsche, starben Mitglieder aus der Mitte unserer
Gesellschaft, die dieses Land mitaufgebaut haben. Es hätte jeden von uns treffen können – euch,
mich, uns. Die Ideologie des brennenden Hasses tötet und ist eine Bedrohung für uns alle, der wir
uns gemeinsam stellen müssen. Zeitgleich starben durch die Pandemie viele Rom;nja in Europa wie sie auch schon in Auschwitz zu Tode kamen: Durch Hunger, durch Durst, durch mangelnde medizinische Versorgung und durch unterlassene Hilfeleistung seitens jener, die die Macht gehabt hätten, ihren Tod zu verhindern.
Die Ideologie, vor derer die Bauten im Berliner Tierpark, vor den Toren unseres Parlamentes
warnen, war ebenso jene Ideologie, die hunderte ihrer Anhänger dazu brachte in Mitten einer
Pandemie über die Gräber der Verbrannten, durch das Meer aus Tränen hindurch den direkten
Angriff auf unsere Demokratie zu wagen in einem Trauerspiel, dem sie den Titel„Sturm auf den
Reichstag“ gaben und welches uns Bilder bescheerte, die jeden einzelnen aufrechten
Vertreter und Vertrerin unserer demokratischen Werte in diesem Land den Atem stocken ließen.
Im besonderen am heutigen Tag, dem Jahrestag der Reichsprogrom Nacht, dem Gedenktag an die
Novemberprogrome an unseren jüdischen Mitmenschen, Schwestern und Brüdern, mahnen die
Bilder der vergangenen Tage aus Leipzig – Menschen, die unter dem Deckmantel von
Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen Seite an Seite mit rechten Ideologien
demonstrieren, die Hitler-Abbilder auf ihre Masken gedruckt haben – eindringlicher denn je davor,
dass sich Geschichte nicht wiederholen darf.
Die Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft nachzuholen ist notwendiger denn je.
Das geschichtsvergessene Gebärden der deutschen Bahn, ihre Weigerung vollständige
Reperationsleistungen für ihre Verbrechen zu zahlen, ihr respektloser und demütigender Umgang
mit den Betroffenen, die die Folgen ihrer Verbrechen bis heute aushalten und bekämpfen müssen,
ist nur ein weiterer Tropfen in einem Fass gefüllt von der alltäglichen Gewalt, die marginalisierte
Gruppen hier und in Europa tagtäglich erdulden müssen.
Wo Heilung stattfinden soll hat Gewalt keinen Platz. Die „Vielen“ beweisen heute mit ihrem Band,
wie Tränen zu Gold werden können und wie Schmerz Heilung durch Solidarität und der Übernahme
von Verantwortung erfährt. Wir müssen verstehen, dass Heilung ein Prozess ist, der auf allen Seiten
stattfinden muss.
Dafür müssen wir das Schweigen brechen. Orte des stillen Gedenken können nur der erste Schritt,
aber nicht der letzte Schliff des Gesamtwerkes sein, das wir mit diesen Zeichen erschaffen wollen.
Wie bereits auf der vergangenen Demonstration betonen wir deshalb nochmal über die
selbstverständliche Unantastbarkeit des Mahnmals und die Aufforderung an die Regierung und alle
Entscheidungsträgerinnen sich ihrer Verantwortung anzunehmen und die Erosion der Pfeiler unserer
Gesellschaft durch eine klare Bekennung zu ihren Versprechen von Schutz und Verteidigung
unserer Werte, der Werte, dass Auschwitz nie wieder sei, abzuwenden, indem sie das notwendige
Exempel statuieren und öffentlichkeitswirksam die Interessen von Bequemlichkeit und Comfort
dem Interesse des Schutzes von Opfern des nationalsozialistischem Völkermordes, des Holocaust,
unterordnen und jetzt und in Zukunft eine Kommunikation auf Augenhöhe mit uns als
Mitbürgerinnen und Mitmenschen in der Mitte der Gesellschaft als Standard zu etablieren anstelle
einer Häuptlingspolitik, die darauf ausgerichtet ist unsere Pluralität unsichtbar zu machen, unsere
Unterdrückung zu fördern und patriarchale Machtgefälle entgegen allen demokratischen
Errungenschaften zu intensivieren.
Darüber hinaus unterstreichen wir abermals die Forderung danach, dass wir nicht weniger Orte der
Bildung brauchen, sondern mehr und das Bildung über die Historie und Gegenwart der Rom;nja
und Sinte;zze in diesem Land in all ihren intersektionellen Realitäten mandatorisch erfolgen muss.
Es sollte kein Hobby sein, über die Menschen, mit denen man gemeinsam Seite an Seite in diesem
Land lebt, und der gemeinsamen Geschichte dieses Landes informiert zu sein. Wir tragen als
Bürgerinnen eine demokratische Pflicht dazu, bewusst und aufgeklärt Entscheidungen zu fällen.
Dieser Pflicht können wir nicht nachkommen, wenn über einen großen Teil unserer Mitmenschen
de facto keine Bildung stattfindet an Schulen und anderen Institutionen der Bildung.
Dazu zählt nicht nur Bildung über die Lebenswirklichkeit von Rom;nja und Sinte;zze, sondern
natürlich auch über die Lebenswirklichkeit aller anderen verfolgten Gruppen des
Nationalsozialismus, von jüdischen Gemeinschaften bis zu Gemeinschaften, die aufgrund
körperlicher Beeinträchtigungen oder sexueller Orientierung verfolgt wurden.
Sintezze und Romnja sind intersektionelle Persönlichkeiten. Wir hörten zu Beginn das Gedicht
eines jüdischen Rom, auf unserem Protest sprachen Schwarze Sintezze,Rom;nja und Sinte;zze aus
der LGBTIQ+ Gemeinschaft und es folgten uns Demonstrant;innen im Rollstuhl oder mit
Blindenstock. In den Kategorien des bisherigen Gedenkens gedenken wir der Toten aber weiterhin
eindimensional und reduzieren sie auf die Kategorien, in denen die Nationalsozialisten sie
eingeordnet haben.
Dies wird dem Mensch-Sein der Ermordeten, ihren Leben nicht gerecht, es wird
der Realität der Überlebenden und ihrer Nachkommen nicht gerecht. Anstelle der Bedrohung unserer Gedenkorte und ihres Abbaus fordern wir deshalb den ohnehin notwendigen Ausbau, wir fordern Orte der vielfältigen Repräsentation der Rom;nja und Sinte;zze, die von der gesamten Gemeinschaft in ihrer Vielfalt gestaltet und mit Inhalten gefüllt werden.
Wir fordern die Zusicherung der Unantastbarkeit und des Schutzes durch den Staat und seine
Organe vor Bedrohungen jeglicher Art und ein Ende der Gewalt gegen die Nachfahren der
Überlebenden hier und in ganz Europa. Wir fordern Orte des Dialoges, an denen wir euch lehren, wie aus schwarzem Wasser ein Meer aus Gold wird, mit dem wir die zerbrochenen Stücke Schritt für Schritt zu einem neuem Ganzen zusammen fügen.

#dasDenkmalbleibt

#savetheSintiandRomaMemorial

#schütztdasDenkmal

#dasMahnmalbleibtunangetastet