Ein Gespräch über Wortneuschöpfungen, besondere Kostüme und unangenehme Farben
Am 20.01.2022 feiert „SELFIE“ von der kanadische Autorin Christine Quintana im GRIPS Theater seine Deutschsprachige Erstaufführung. In dem Stück kommt es auf einer Party in der Freundesgruppe von den Teenagern Emma, Chris und seiner Schwester Lily zu einem sexuellen Übergriff. Dazu wollen die sanften Farben, in denen die Bühne gestaltet ist, und die legeren Jogginganzüge der Schauspielenden im ersten Moment gar nicht passen. Was das beim Publikum bewirken soll, wie die Idee entstanden ist und wie sie sich im Probenverlauf veränderte, erklären die Bühnen- und Kostümbildnerinnen Lea Kissing und Merle Richter zusammen mit den Gewandmeisterinnen Anne Rennekamp und Sabine Winge im Gespräch mit unserer FSJlerin Daria Herken.
GRIPS: Wie ergänzt der Bühnenraum die Kostüme und andersrum?
Lea: Durch den Bühnenraum will ich diese künstliche Instagram-Welt miterzählen. Der Raum ist sehr groß und clean, es gibt einen Rundhorizont aus weißem, transparenten Stoff und architektonische Fragmente in den Farben des Kostüms. Alles ist monochrom: So, als wäre ein Filter darüber gelegt. Wie in den Social Media.
Merle: Dieser Filtereffekt soll unangenehm sein: irritierend und nicht wirklich greifbar.
Lea: Die Körper der Schauspielenden morphen sich ins Bühnenbild hinein. Aber gleichzeitig sind die Kostüme so besonders, dass die Körper dadurch wie Skulpturen ausgestellt werden.
GRIPS: Die Kostüme sind alle nach einem bestimmt Stil gestalten, den ihr, Lea und Merle, „Joggoko“ nennt. Was bedeutet das und wie seid ihr darauf gekommen?
Lea: Joggoko ist die Verbindung von Rokoko und Jogging. Die supergemütliche Joggingkluft wird mit Rokoko kombiniert. Bei der Recherche haben wir viel mit Bildern gearbeitet und sind ziemlich schnell beim Rokoko gelandet, weil es dort, ähnlich wie bei Instagram, viel um (Selbst-) Inszenierung ging.
Merle: Es sollte eine Utopie geschaffen werden. Es war nicht mehr zu erkennen, was Stuck und was bloß gemalt ist. So wie in den Social Media: Wo beginnt die Inszenierung, wo hört sie auf?
Lea: Eigentlich sollte eine Jogginghose das Gegenteil davon sein, sie ist sehr intim und privat. Doch in den letzten zwei Jahren hat sich das geändert. Ich erinnere mich an viele Bilder in den sozialen Medien, auf denen das Zuhause-Herumhängen geradezu inszeniert wurde. Plötzlich ging es darum, das ungeschminkte Chillen wieder herauszuputzen und vorzeigbar zu machen. Ein Paradox, das wir mit dem Joggoko auf die Bühne bringen.
GRIPS: Alle Figuren tragen mintfarbene Jogginganzüge. Worin äußern sich die deutlich unterschiedlichen Entwicklungen, die die Figuren durchleben?
Merle: Obwohl die Joggingkluft in gewisser Weise als Uniform fungiert, war uns wichtig, dass die Charaktere sich auch voneinander abgrenzen. Dazu gibt es kleine Veränderungen, die immer sehr auf den Moment bezogen sind. Lily zum Beispiel bekommt, wenn sie die Posts spricht, viele Accessoires. Die kann sie dann wie analoge Filter benutzen. Das verleiht ihr als Charakter eine gewisse Wandelbarkeit.
Lea: Emma ist über den Sommer in Paris gewesen und laut Lily dort „cool“ geworden, darum sind Perlen auf ihre Jogginghose gestickt. Zudem verliert sie im Laufe des Stückes diese Mintfarben und bekommt vollere Farbtöne. Chris hingegen inszeniert sich selbst sehr stark, auch mit seinen Outfits. In der Szene, in der er Emma umwirbt, trägt er beispielsweise ein extrem enges, extrem gerüschtes Muskelshirt. Weil ein Foto von ihm auf dem Schulplaner prangt, trägt er in der Schule einen Hoodie mit einem Bild von sich darauf gedruckt.
GRIPS: Anne und Sabine, bei den meisten Produktionen werden die Hosen und Shirts für die Schauspielenden gekauft und dann von euch angepasst. Wieso habt ihr für SELFIE so viel selbst nähen müssen?
Anne: Tja, das haben wir Lea und Merle zu verdanken (lacht). Die beiden haben sich auf einen sehr speziellen Farbton festgelegt, in dem es nicht viele Kleidungsstücke zu kaufen gibt. Gott sei Dank hat Lea überhaupt Stoff gefunden – aber davon auch fast nicht genug! Außerdem hat sich der Joggoko in der Berliner Szene noch nicht allzu sehr verbreitet, darum mussten wir eben selbst kreieren und nähen. Dass alles sehr neu, spannend und interessant ist, kennen wir ja schon von Lea. Die Arbeit mit ihr ist immer anders!
Lea: Juchu!
GRIPS: Was bemerkt ihr, was Lea und Merle für die Umsetzung der Kostüme vergessen haben könnten?
Sabine: Bei dieser Produktion waren das nur Kleinigkeiten. Bei den Perlen auf Emmas Jogginghose zum Beispiel, kann das Waschen ein Problem werden. So oft, wie die Kostüme in der Waschmaschine sind, könnte es sein, dass die Farbe schnell abblättert – oder die Perlen ganz abfallen. Darauf haben wir Lea und Merle hingewiesen, jetzt müssen wir einfach schauen.
Anne: Es kommt durchaus vor, dass die Kleidungsstücke, die die Kostümbildner*innen sich ausdenken, auf der Bühne ziemlich unpraktisch sind. Bei dieser Produktion ist uns in der Hinsicht aber nichts aufgefallen.
Lea: Der harte Funktionstest steht aber auch noch aus…
GRIPS: Gibt es denn von den ersten Entwürfen bis zu den fertigen Kostümen viele Änderungen?
Merle: Ursprünglich hatten wir uns überlegt, dass Lily und Chris im Verlauf des Stücks immer mehr mit Accessoires beladen werden, Emma zu Beginn total überladen ist und zum Ende hin eine immer klarere Form bekommt. Davon haben wir uns jetzt gelöst, damit die Zuschauer*innen sich besser mit den Figuren identifizieren können. Schon die Farbigkeit sorgt für eine Abgrenzung, das wollen wir nicht noch verstärken.
Anne: Auch so Kleinigkeiten, zum Beispiel, wo die Tunnel, die Bänder und die Rüschen hinkommen, steht vorher nicht fest. Das entscheiden wir bei den Anproben.
Sabine: Ganz vieles entwickelt sich erst im Probenverlauf. Da schauen wir: Wie bewegen sich die Schauspielenden, was für Dinge machen sie? Dementsprechend müssen wir reagieren. Eine Idee entwickelt sich manchmal während einer Probenphase in eine ganz andere Richtung, als wir es erwartet haben.
Merle: Sowieso arbeite ich sehr prozessorientiert. Das, was ich mir am Anfang ausdenke, ist nur eine Idee, die nicht so stehen bleiben muss. Da kommen immer noch viele neue Ideen hinzu und ich überprüfe die alten. Dafür bin ich auch bei den Proben dabei, in denen die Charaktere und Texte ausgefeilt werden. Manchmal passt das, was dabei entwickelt wird, gar nicht zu dem Charakter, den ich im Kopf hatte. Dann muss ich entscheiden, wie ich reagiere. Mit den Ideen und Einflüssen von den Proben kommen wir vier (Lea, Anne, Sabine und Merle) zusammen und denken und entwickeln weiter.
Anne: Es kommt auch vor, dass das, was wir genäht haben, plötzlich nicht mehr aktuell ist, und wir nochmal von vorne anfangen müssen. Von unserer Seite aus ging der Prozess bei SELFIE aber nur nach vorne.
GRIPS: Anne und Sabine, die Kostüme im „Joggoko“-Stil sind sehr detailreich. Die Kleider haben viele Raffungen und/oder Rüschen. Welche Teile waren am anstrengendsten zu nähen?
Anne: Bei Chris´ zweitem Muskelshirt habe ich mich nicht mehr über jede Rüsche gefreut… Ansonsten war alles sehr abwechslungsreich! Am meisten Gedanken haben wir uns im Vorfeld über die große Steppdecke gemacht.
Sabine: Das war auch zeitintensiv, weil wir 36 Kissenbezüge genäht und dann aneinander genäht haben. Schlussendlich ging es aber flott: Kissen rein, fertig!
GRIPS: Frage an alle, warum gefällt euch SEFLIE? Was ist euch wichtig? Welche Wirkung erhofft ihr euch?
Merle: Als Wirkung auf das Publikum erhoffe ich mir das, was die Arbeit an SELFIE auch bei mir ausgelöst hat: Indem ich von der Arbeit und dem Stück erzählt habe, habe ich in meinem Freund*innenkreis Räume geöffnet, um offen über dieses sensible Thema zu sprechen. Und zwar ohne anzuprangern und große Fehler aufzuweisen, sondern erstmal nur über das Stück zu reden.
Lea: Diese Inszenierung ist sehr mutig, weil sie vieles offen hält. Auch mit der Bühne und den Kostümen erzählen wir keine Sichtweisen vollkommen aus, sondern bleiben variabel. Ich hoffe, dass das sensibilisiert und zum Nachdenken anregt.