Vom Corona-Chaos zum kreativen Neudenken

GRIPS-Leiter Philipp Harpain zur Spielzeit 2022|23

GRIPS:    Kurze Frage gleich zu Beginn: Kann man als Theater nach 2,5 Jahren Corona-Pandemie einfach so nahtlos an die Zeit vor Corona anknüpfen?
Philipp Harpain: Ja und nein. Die letzten zweieinhalb Jahre waren ein wahnsinniger Einschnitt. Letztes Jahr konnten wir zwar durchgehend spielen, die ganzen Coronaregelungen und Krankheitsfälle haben jedoch den Spielbetrieb bestimmt. Aus unserem Repertoire von 19 Stücken haben wir nur elf auf Corona-Bedingungen uminszenieren und zeigen können. Für diese Spielzeit haben wir uns vorgenommen, wieder unser vollumfängliches Repertoire zu zeigen, und können auch wieder auf Corona-Bedingungen angepasste Spielweisen herausnehmen. 
Die Chance dieses Einschnitts lag darin, dass wir unsere Inszenierungen mit Abstand neu denken konnten. 
Jetzt arbeiten hier alle mit Feuereifer an den Wiederaufnahmen. Das ist unter anderem ein Grund dafür, dass unsere erste Premiere der Spielzeit erst Ende Oktober herauskommt. 

Philipp Harpain über die Chancen des Neuanfangs nach dem Corona-Chaos der letzten Jahre

GRIPS:    Was machst du mit den Stücken, die du gar nicht zeigen konntest, wie zum Beispiel „Ab heute heißt du Sara“?
Philipp Harpain: „Ab heute heißt du Sara“ werden wir „restaurieren“, konkret heißt das, dass wir das Bühnenbild rekonstruieren und mit dem großen Ensemble umfassende Wiederaufnahmeproben machen. 
In Anbetracht dessen, dass unsere Freundin Inge Deutschkron dieses Jahr verstorben ist, ist es mir eine Herzensangelegenheit, dass wir das Stück in einer sehr guten Fassung wieder auf die Bühne bringen werden. 
Von Inge und ihrer Geschichte, wie sie die Verfolgungen während der Nazizeit in Berlin mit ihrer Mutter überleben konnte, davon konnten und können wir ganz viel lernen. Stückbegleitend wird es auch wieder diverse Projekte mit Jugendlichen geben. Die Wiederaufnahme ist am 4. November 2022.

GRIPS:    Das älteste Stück im Repertoire ist die legendäre „Linie 1“, selbst wenn es schon in den letzten Monaten gespielt wurde, hat es anderthalb Jahre gelegen – was hat dieser Abstand gemacht?
Philipp Harpain: Vor fast 40 Jahren hat diese Inszenierung bei jungen Menschen einen Nerv getroffen, diesen Nerv für junge Menschen möchten wir wieder herauskitzeln. Den durch die Pandemie erzwungenen Abstand auch zur „Linie 1“ kann man als eine kreative Pause beschreiben, um unser künstlerisches Profil neu zu denken, zu schärfen, auszubauen. Daher auch unser Wunsch, diese zeitlose und schöne Geschichte vom Leben und Überleben in der Großstadt aus heutiger Sicht neu zu betrachten. Wir schauen auf die Musik und Arrangements, die Anlage der Figuren, auf Bühne und die Kostüme, Choreografien, auf inszenatorische Details; der Stücktext steht, alles andere ist im künstlerischen Prozess.
Es bringt jetzt schon sehr viel Spaß, gemeinsam mit unserer Dramaturgie und Regisseur Tim Egloff diesen Blick von heute auf die 80er Jahre wieder herauszuarbeiten. 

GRIPS:    Hast du ein Beispiel dafür?
Philipp Harpain: Da wird zum Beispiel auf Filmzitate angespielt, die man heute, 36 Jahre später, gar nicht kennt. Auch bei manchen Rollen kann es sein, dass man diese Figuren aus heutiger Sicht gar nicht interpretieren kann. Der „Junge in Hut“ spielt beispielsweise auf Humphrey Bogart an, das ist eine Referenz, die heutige Jugendliche nicht verstehen.  
Darauf hat schon Petra Zieser zur Wiederaufahme im Herbst 2021 geachtet, jetzt gehen wir mit Tim Egloff noch einen Schritt weiter, um die Menschen von heute ins West-Berlin der 80er Jahre mehr mitzunehmen Ich freue mich sehr darauf und bin gespannt auf das Ergebnis, am 30. März 2023 wird es die Premiere der Neuinszenierung von LINIE 1 geben.

GRIPS:    Und wieso hast du dich, gemeinsam mit deinem Gremium, für Tim Egloff als Regisseur für die Neuinszenierung von LINIE 1 entschieden?
Es hat zwischen uns gefunkt. Wir kennen Tim aus der Zusammenarbeit mit „Das Heimatkleid“. Er ist ein erfahrener Theaterregisseur, der große musikalische Inszenierungen wie „The Black Rider“ auf die Bühne gebracht hat, der eine große Lust auf den Stoff hat und eine große Offenheit mitbringt.
Er hat Respekt vor diesem GRIPS-Klassiker und ist gleichzeitig ein Regisseur der jüngeren Generation, der mit frischem Blick auf die „Linie 1“ schaut. Tim lebt in Berlin, kennt die verschiedenen Milieus, die Berlin heute wie damals ausmachen, und sich nach wie vor in der U-Bahn treffen. 

GRIPS:    Vier Premieren sind geplant, auf welches der neuen Stücke freust du dich besonders?
Philipp Harpain: Auf die Uraufführung am 24. Oktober von „Die Blauen Engel“, ein Kinderstück von Manuel Ostwald, einem jungen Hamburger Autor, der damit den Berliner Kindertheaterpreis 2021 gewonnen hat, unserem Wettbewerb, den wir seit 17 Jahren gemeinsam mit der GASAG ausschreiben. Es spielt an einen sehr ungewohnten Ort, der Kinder gleichermaßen anzieht und fasziniert wie abstößt: Dem Müllhäuschen. Eine tolle Geschichte von drei Kindern, die sich darum kümmern, einen Konflikt der älteren Brüder zu lösen, und ganz nebenbei erfährt man von drei Berliner Mülltonnen eine ganze „Müllosophie“.

GRIPS:    Volker Ludwig hat ja schon bei seinem 85. Geburtstag im Juni verraten, dass er die Liedtexte für ein neues Stück von Milena Baisch schreibt, das Anfang 2023 zur Uraufführung kommen wird.
Philipp Harpain: Milena Baisch hat Volker Ludwig mal gefragt, ob er eigentlich jemals ein Stück über einen Kindergeburtstag geschrieben hätte, was ja für Kinder wirklich DAS große Ereignis im Jahr ist. Hat er nicht und deswegen hat Milena Baisch ein Kinderstück mit dem Titel „Zum Glück viel Geburtstag!“ für Menschen ab 6 Jahren für uns geschrieben.
Eine super Idee, weil ja ausgerechnet beim Kindergeburtstag Glück und Unglück so dicht beieinander liegen: Es kann der größte Tag im Jahr sein – oder der allerschlimmste! Und zwar gleichermaßen für Kinder und für Erwachsene. Und genau das, was alles an einem Tag passieren kann, beschreibt Milena Baisch mit sehr viel Humor in Echtzeit. So viel sei schon verraten: Die Mama arbeitet bei der Feuerwehr und muss zum Einsatz, der Vater muss den ganzen Kindergeburtstag alleine wuppen. Eltern werden auf alle Fälle die gleiche Freude an dem Stück haben! Ein berührendes Stück, das alle Tiefen und Untiefen eines Kindergeburtstags auslotet, ich freue mich schon sehr darauf. 
Und weil Volker Ludwig selbst nie auf die Idee kam, ein Stück über einen Kindergeburtstag zu schreiben, schreibt er jetzt die Lieder dafür, auf dass sein Geburtstagslied hoffentlich durch die ganze Republik gehen wird.  

GRIPS:    Schon seit einigen Jahren kommt das Thema Klima in unterschiedlichen Produktionen und Projekten im GRIPS zum Tragen, zum Ende der Spielzeit soll es ein Jugendstück zum Thema geben – im Ernst?
Philipp Harpain: Ja. Wir haben Kirsten Fuchs dafür gewinnen können, die sich sofort dafür begeistert hat. Ihr ist auch klar, dass man mit dem Stück nicht die Klimakrise an sich erklären muss, sie interessiert sich ausschließlich dafür, was die Klimakrise mit Jugendlichen macht, wie sie damit umgehen, was das für sie und ihre Zukunft heißt. 
Einerseits haben wir ja die aktuellen Bewegungen wie Fridays for Future, aber es gibt ja auch Jugendliche, die sagen, mit neuer Technik kriegen wir das doch alles in den Griff, also ganz unterschiedliche Sichtweisen auf ein drängendes Problem. 
„Der Bus brennt“ ist eine Geschichte, die in einer nicht allzu fernen Zukunft in einer Bushaltestelle spielt, an der sich sehr unterschiedliche Jugendliche treffen – und lost im Nirgendwo mit zwei automatischen Bussen sind. Wer Kirsten Fuchs kennt, weiß, dass sie ganz nah an den Jugendlichen dran ist, sie schreibt das Stück gerade noch, und klar ist bei ihr: zu ernst wird es nicht werden, ohne dass sie die Brisanz des Themas verrät. Nächsten Sommer, zum Ende der Spielzeit ist die Uraufführung geplant. 

GRIPS:    Vorher wird im April 2023 gemeinsam mit dem Partner GASAG zum 8. Mal der Berliner Kindertheaterpreis, verliehen, du hast die nominierten Autor*innen im ersten Workshop schon kennengelernt, der zweite Workshop ist Ende September – wie ist dein erster Eindruck von den neuen Talenten?
Philipp Harpain: Auch dieses Mal ist das wieder ein sehr starker, sehr interessierter Jahrgang, der wahnsinnig große Lust aufs Schreiben hat, unser Haus kennenzulernen, und sich auf das Schreiben für das Kindertheater einzulassen. 
Es freut mich wirklich sehr, dass wir mit der GASAG eine Autor*innenförderung etabliert haben, die sich wirklich sehen lassen kann, denn alle Kinder- und Jugendtheater profitieren davon. Dass die Preisverleihung inzwischen fester Bestandteil des Theatertreffens der Kinder- und Jugendtheater, Augenblick Mal!, ist, zeigt eben auch die Bedeutung des Berliner Kindertheaterpreises. Ende April werden wir wieder Auszüge der fünf neuen Stücke dem Fachpublikum szenisch vorstellen und im Rahmen eines Gala-Abends den oder die Preisträger*in feiern. Dank der auf Langfristigkeit angelegten Partnerschaft mit der GASAG konnten wir diesen Preis wirklich zu dem entwickeln, der er heute ist, von unserer Erfahrung von 17 Jahren erfolgreicher Autor*innenförderung profitieren wir alle. 
Apropos Preis: Am 11. Oktober feiern wir im GRIPS die Verleihung des diesjährigen IKARUS-Preises vom JugendKulturService, mit dem die besten Berliner Produktionen ausgezeichnet werden, wir sind gleich mit zwei Stücken nominiert worden, „Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück“ und mit „SELFIE“. Die Konkurrenz ist aber hart, mal sehen, wer gewinnen wird!

GRIPS:    GRIPS ist auch bekannt für viele Partnerschaften und Projekte der Theaterpädagogik – was ist da noch geplant?
Philipp Harpain: Gleich zu Beginn der Spielzeit werden wir im Rahmen von „Draussenstadt“ am Samstag, dem 17. September, von 11 bis 16 Uhr die Bartningallee sperren lassen und zu einer großen Theaterstraße umbauen, unser Theaterpädagogik-Team und Kolleg*innen aus den Gewerken planen sehr viele künstlerische Aktionen, Workshops etc. zum Mitmachen für die ganze Familie. Ab 16 Uhr können die Familien sich dann unser Kinderstück „Himmel, Erde, Luft und Meer“ anschauen. 
Wir setzen auch unsere Partnerschaft mit dem Theaterkollektiv „Rom*nja Power“ fort. 
Unsere drei Kinder- und Jugendclubs bringen wieder jeweils eine Produktion unter professionellen Bedingungen auf die Bühne, u.a. auch mit inklusiven Ensembles. 
Und wir unterstützen diese Spielzeit den Berliner Flüchtlingsrat als unsere „Partner-NGO des Jahres“.

GRIPS:    Man hat zum Spielzeitende oft davon gelesen und gehört, dass das Theaterpublikum noch vorsichtig mit Besuchen ist, wie war und ist das bis jetzt im GRIPS?
Philipp Harpain: Was ich hier echt mal sagen muss: Das Publikum ist großartig, es hält uns die Treue, ist wahnsinnig interessiert, dankbar und offen, wie von Schwämmen wird das Theater hier aufgesaugt. Wir haben ein im besten Sinne aufgeregtes und lebendiges Publikum, das zu uns kommt und es freut mich so sehr, sie alle wieder auf die Reise mit unseren Geschichten mitnehmen zu können.