Die Gesellschaft einer Stadt in Bewegung

LINIE 1: Regisseur Tim Egloff im Gespräch

GRIPS: Was waren deine ersten Gedanken, als man dich für eine Neuinszenierung der Linie 1 angefragt hat?
Tim Egloff: Ich war erstmal überrascht, aber auch gleich voller Lust auf diese Aufgabe: LINIE 1 ist so legendär, ein fester Bestandteil der Berliner Theatergeschichte – eine Neuinszenierung nach so vielen Jahren am GRIPS Theater ist auf allen Ebenen eine große Herausforderung. Das ist alles ein bisschen wahnsinnig, auch deshalb hat es mich sofort gereizt, bedeutet aber natürlich auch eine Menge Verantwortung. 

Tim Egloff | ©

GRIPS: Welche Aspekte haben dich bewogen, einer Neuinszenierung zuzustimmen?
Tim Egloff: Ein Stück, das sich so sehr mit der Gesellschaft einer Stadt auseinandersetzt, speziell einer Stadt wie Berlin, die sich so sehr durch Veränderung, Vielfalt und einer gefühlten permanenten Beweglichkeit definiert, so ein Stück kann und sollte immer wieder neu befragt und entdeckt werden; und mit den Gegebenheiten unserer Realität abgeglichen werden. Volker Ludwig hat einen Text geschaffen, der für wirklich viele Menschen eine große Bedeutung hat, ich habe das immer wieder in Gesprächen gespiegelt bekommen. Diese Geschichte nun neu erlebbar zu machen, d.h. aus dem Heute heraus befragen zu können, war für mich Voraussetzung. Natürlich sind wir am Haus, wo die LINIE 1 entstanden ist, dadurch ist eine Nähe zur Urfassung quasi gesetzt. Aber alle Beteiligten sollten die Bereitschaft mitbringen, auf Grundlage des gegebenen Textes den Abend inhaltlich, ästhetisch, musikalisch neu zu denken. Gleichzeitig war es mir wichtig, ein Team zu finden, das respektvoll, aber auch unverfroren auf die bisherige LINIE 1 blickt, um dann aus den verschiedenen zeitlichen Zusammenhängen etwas Neues entstehen zu lassen und die Welten miteinander zu verbinden. Das spiegelt sich auch im Ensemble, in dem ich unbedingt Mitwirkende der vergangenen Jahre zusammenbringen wollte, teilweise sogar der Uraufführung, neben einem jungen, diversen Schauspielteam, das bisher keine LINIE-1-Erfahrung hatte. 

 GRIPS: Welche Geschichte hast du selbst mit LINIE 1? Kanntest du das Stück vorher?
Tim Egloff: Der Witz ist, dass ich das Stück nie ganz gesehen hatte, bevor das Projekt auf mich zukam. Es hatte sich irgendwie nicht ergeben. Auch als ich 2017 am Grips „Das Heimatkleid“ inszeniert hatte, bin ich nie dazu gekommen mir eine Vorstellung anzusehen. Aber natürlich hab ich aus dem GRIPS-Umfeld viel davon gehört. Und LINIE 1, die Songs und Bilder vom LINIE-1-Kosmos, begleiten mich gefühlt seit der Uraufführung in den 80ern. Ich bin ja in Hamburg geboren, habe meine Kindheit und Jugend nicht in Berlin verbracht. Aber der Impact, den das Stück damals hinterlassen hat, war wohl auch in Hamburg spürbar. Meine Eltern sind beide geborene Berliner, vielleicht gab es auch deshalb in unserer Familie eine erhöhte Aufmerksamkeit für alles aus dem damaligen West-Berlin. Aus meiner Kinderperspektive stand die LINIE 1 immer für etwas Wildes, Zügelloses, ein bisschen verrucht und ziemlich enthemmt – und wahnsinnig anziehend!

GRIPS: Was ist für dich die Stärke der LINIE 1? 
Tim Egloff: Die Konstruktion der Geschichte ist großartig. Eine junge Frau, die in ihr unbekanntes Terrain auf das breite Spektrum einer diversen Stadtgesellschaft stößt. Immer wieder kleine Begegnungen, die lebensverändernd sein können, hinter jedem unbekannten Gesicht in der U-Bahn eine Geschichte, ein Schicksal, quer durch alle sozialen Schichten. Ein wunderbares Panoptikum. Und da trifft es in meinen Augen eben auch so sehr den Nerv: LINIE 1 bedeutet Diversität. Und der Text begegnet diesen zum Teil schwerwiegenden inhaltlichen Gewichten mit einer Menge Humor, was in den allermeisten Fällen eine Stärke ist. Wir wollen aber auch dafür sorgen, dass der eingeschriebene Humor nicht die inhaltlichen Untiefen, die Abgründe in der Geschichte einebnet, die größtenteils erschreckende Aktualität haben. Es ist nicht alles funny. Ein Riesenpfund ist die Musik. Mit wem ich in den vergangenen Monaten über das Projekt gesprochen habe – sofort singen die Leute ihr persönliches LINIE-1-Medley. Es ist schon beachtlich, wie tief sich dieses Stück ins kollektive Bewusstsein hineingegraben hat. 

GRIPS: Wie hast du dich den Songs aus der LINIE 1 genähert? Was war dir bei der Umsetzung wichtig?
Tim Egloff: Ich wollte gerne nochmal neu auf die Songs schauen. Wir haben jetzt die Chance, mit der Distanz von fast 40 Jahren auf die Musik der 80er zu schauen. Da liegt in meinen Augen ein besonderer Charme. Die 80er und 90er sind wieder allgegenwärtig, in Musik, Mode, Design, wir haben auch in den Arrangements nach Zuspitzungen und bewusst gesetzten Zitaten gesucht. Und in manchen Fällen vielleicht auch mit den musikalischen Genres experimentiert. Das ist alles im Prozess, aber die Suche ist sehr vielversprechend.

Die Fragen stellte der Dramaturg Tobias Diekmann. 

Über Tim Egloff:

  • *1974 Hamburg. Nach seinem Schauspielstudium in München ging er 2001 als festes Ensemblemitglied ans Düsseldorfer Schauspielhaus, 2006 bis 2010 war er im Ensemble des Nationaltheater Mannheim. 
  • Sein Regiedebüt gab Egloff 2008, seit 2010 arbeitet er als freier Regisseur. 
  • Seitdem Regiearbeiten in Mannheim, Berlin, Stuttgart, Frankfurt a.M., Würzburg, Schwerin, Bremerhaven, Osnabrück, Dessau, Göttingen, Hannover u.a.
  • Zu seinen Inszenierungen zählen u.a. die Uraufführung Phantom (Ein Spiel) von Lutz Hübner und Sarah Nemitz, Extremophil von Alexandra Badea, Henrik Ibsens Hedda Gabler und Peer Gynt, sowie Glaube Liebe Hoffnung von Ödön von Horvàth und The Black Rider von William Burroughs, Tom Waits, Robert Willson.
  • 2017 inszenierte er die Uraufführung Vereinte Nationen von Clemens Setz am Nationaltheater Mannheim, diese Produktion wurde zu den 42. Mülheimer Theatertagen Stücke 2017 eingeladen.
  • Im selben Jahr brachte er Das Heimatkleid von Kirsten Fuchs am Grips Theater Berlin zur Uraufführung und wurde damit 2018 zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen. 
  • Er lebt in Berlin.