„Es braucht Erwachsene, die sagen: Wir sehen, was hier los ist“

Interview mit unserem Kooperationspartner „SEELENERBE e.V. – Verein für erwachsene Kinder psychisch kranker Eltern“

Unsere Produktion „Kuckucksnest“ wurde von „Seelenerbe e.V.“ begleitet und mit Fachinformationen unterstützt. Judith Hopp, Vorstandsmitglied von Seelenerbe e.V., ist aufgewachsen in einem sehr belastenden Familiensystem und mit einer psychisch erkrankten Mutter. Bei ihrem ersten Klinikaufenthalt war sie fünf Jahre alt. Im jungen Erwachsenenalter hat erstmal keine Aufarbeitung dieser Zeit stattgefunden. Und trotzdem waren die Erfahrungen immer da. Der Austausch im Verein mit Menschen, die eine ähnliche Kindheit hatten, ist für sie sehr bereichernd, denn sie entscheidet sich nun für ein Stehenbleiben und Hingucken.
Hier das Interview, dass das Produktionsteam mit Judith Hopp geführt hat:

GRIPS: Was erkennst Du aus Saffas und Nims Leben in „Kuckucksnest“?

Judith Hopp: Ich war Einzelkind und habe mir oft Geschwister gewünscht, um nicht allein mit meinen Erfahrungen zu sein. Die Atmosphäre der Instabilität wie bei Saffa und Nim zuhause, die von Kindern feine Antennen für den Zustand des Elternteils erfordert, kenne ich auch gut, und die Angst der beiden, selbst „durchzuknallen“. Es sind nicht nur die Extremsituationen, wie die Mutter auf dem Dach, sondern vor allem der von außen nicht sichtbare Alltag, wie ihn Saffa und Nim erleben, der auch unseren Vereinsmitgliedern und mir zu schaffen machte. Ich erkenne mich in beiden Schwestern wieder: Auch ich musste sehr früh erwachsen sein, habe für mich selbst gekocht und viel Verantwortung übernommen, z. B. gut in der Schule zu sein. Die Zerrissenheit zwischen manischer und depressiver Phase erkenne ich sehr: In der Manie erlebt man auch viel Freude, wie Saffa beschreibt. Die depressive Phase ist eindeutiger, wie Nim sagt, auch wenn sie mit viel Trauer einhergeht.

GRIPS: Es wird heutzutage viel mehr über mentale Gesundheit gesprochen. Trotzdem beschreibst Du, genau wie die Autorin von »Kuckucksnest«, Nina van Tongeren, psychische Erkrankungen noch immer als Tabuthema. Was für Tabus wünschst Du Dir zu brechen?

Judith Hopp: Ich habe die Erkrankung meiner Mutter als totale Überforderung für unser Umfeld wahrgenommen. Für mich ist Psychoedukation, also ein Vermitteln von Wissen über psychische Erkrankungen, extrem wichtig, um mit den so zahlreichen Tabus rund um dieses Thema zu brechen und Betroffene und Angehörige zu entstigmatisieren. Die meisten unserer Vereinsmitglieder hatten immer das Gefühl, die Einzigen zu sein, die diese Erfahrungen machen. So ging es auch mir. Über die Erkrankung meiner Mutter und meine Situation zuhause zu sprechen, war unglaublich schambehaftet. Es braucht Erwachsene, die sagen: Wir sehen, was hier los ist. Das passiert in ganz vielen Familien. Wir sind für Dich da und geben Dir Worte, um darüber zu sprechen. 

Laut ihren Erhebungen [Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde] sind in Deutschland rund 28 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht rund 18 Millionen Menschen. (…) Nur knapp 20 Prozent der Betroffenen sind in professioneller Behandlung. Die anderen 80 Prozent sind ausschließlich auf die Unterstützung von Angehörigen, Freundinnen und Freunden, Partnern, Nachbarn oder Kolleginnen angewiesen. 

GRIPS: Was braucht es im Umfeld der Nims und Saffas? 

Judith Hopp: Die Nuklearfamilie kann solch überfordernde Situationen wie eine psychische Erkrankung nicht allein halten und ist oft Teil der Dynamik.
Auch wenn „Kuckucksnest“ eine intensive Schwesternbeziehung aufzeigt, lädt das Stück ein, Gespräche und intensive Bande mit Menschen im Umfeld einzugehen. Die Personen im engsten Familiensystem sind oft selbst zu belastet und involviert. Es braucht Bezugspersonen, die die Situation kennen (Tante, Lehrkraft, etc.) einen gewissen Abstand wahren. Darüber hinaus braucht es ein Unterstützungssystem (Therapeut*innen, Ärzt*innen, Träger), das eine Familie als Ganzes wahrnehmen und im Falle eines erkrankten Elternteils auch die Kinder gut begleiten. 
Die eigenen Erlebnisse ernst zu nehmen, hat ganz viel damit zu tun, was du von außen gespiegelt bekommst. Kinder müssen das Gefühl haben, nicht übersehen zu sein in ihren Erfahrungen. Und diese Erfahrungen anzusprechen ist vielleicht erst einmal unangenehm. Für beide Seiten.
Meist wollen Erwachsene dann gleich die gesamte Situation lösen. Wir müssen uns aber erstmal darin schulen, hinzuschauen und Halt zu geben. Manchmal können wir erstmal nur halten und da sein.
Ich habe enge Familienbunde durch meine Großmutter und meine Tante erlebt, was einiges abgefedert hat, aber auch ein Grund war, warum vieles nicht nach außen gedrungen ist. Ich glaube, die Außenwelt hätte eine wichtige Hilfe sein können. 

Nim: „Saf denkt, dass ich Mama nicht liebhab, aber das stimmt nicht. Ich hab eher Angst ihr zu ähnlich zu werden, wenn ich weiterhin bei Mama wohne. Und man kann jemanden sehr liebhaben und trotzdem nicht so werden wollen wie sie.“ (aus „KUCKUCKSNEST“, Szene 10)

GRIPS: Was für Sorgen haben Dich als Kind und als Jugendliche begleitet? 

Judith Hopp: Was mich immer begleitet hat, war die Angst, so zu werden wie meine Mutter. Genau wie bei Nim. 
In traurigen Phasen fragte ich mich unaufhörlich: Ist das noch normal, oder bin ich schon auf dem Weg in die Krankheit? Jetzt bin ich 41 Jahre alt und beginne mich ein bisschen zu entspannen, denn Krankheitsbilder, wie das meiner Mutter, brechen früher aus. Und trotzdem, ein bisschen von dieser Angst bleibt. Dass, wenn ich nicht genug für meine mentale Gesundheit mache, es doch noch passieren könnte.

Saffa: Du weißt genau, dass Mama nicht springen wird.
Nim: Ja? Weiß ich das genau? Weißt du das genau?
aus „Kuckucksnest“, Szene 4

Außerdem das Thema Suizidalität: Es hängt nämlich wie ein Damoklesschwert immer über dir. Für jedes Kind mit einem Elternteil mit stärkerer psychischer Erkrankung steht das Thema im Raum. 
Der absolute Trugschluss ist, dass über Suizidalität sprechen einem Anstiften dazu gleichkommt. Das Gegenteil ist der Fall: Es ist unglaublich wichtig, dass darüber gesprochen wird, und dass das Thema auch bei »Kuckucksnest« im Raum steht, wir es aber als Kollektiv erfahren. Es wird sicher Stellen im Stück geben, die bei den Zuschauenden intensive Reaktionen hervorrufen. Und das muss es auch, denn es ist ein intensives Thema. Aber dieses Thema im Theaterraum zu erfahren, beinhaltet ja schon, dass kein Kind dabei allein ist.