„Es geht im Kontext Familie weniger um die Erkrankung selbst, sondern wie sich eine Krankheit auf das Kind auswirkt“

Im Gespräch mit unserem Kooperationspartner für „Kuckucksnest“, das Jugendamt Berlin Mitte

Es mag viele Vorurteile gegenüber der Arbeit von Jugendämtern geben, doch sie sind eine der wichtigsten Anlaufstellen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen. GRIPS-Dramaturgin Henriette Festerling hat mit Mitarbeitenden des Jugendamts Berlin Mitte über das Theaterstück „Kuckucksnest“ gesprochen:

Saffa: „Weil du beim Jugendamt petzt. Und schon sind wir im System. Da kommen wir nie mehr raus.“ aus „Kuckucksnest, Szene 8

GRIPS: Wie reagiert die Außenwelt auf das Jugendamt? 

Jugendamt Mitte: Ganz unterschiedlich: „Das Jugendamt klaut Kinder“, „Wenn man einmal aus der Familie genommen wird, ist das für immer“, „Jugendamt bedeutet Heim“. Aber auch: „Jugendamt hilft, wenn es Streit zwischen Eltern gibt“ oder „Jugendamtsmitarbeitende greifen unter die Arme“. 

GRIPS: Was passiert, wenn ihr eingeschaltet werdet? Wie wird speziell mit psychischen Erkrankungen bei Elternteilen umgegangen? 

Jugendamt Mitte: In Berlin wird familienerhaltend gearbeitet, vor allem im Kontext psychischer Erkrankungen. 
Es gibt immer mehr spezialisierte Träger, die auf psychische Erkrankungen fokussiert sind. Sie betrachten das gesamte Familiensystem und fragen: Was muss passieren, damit ein Kind, zum Beispiel, in Ruhe lernen kann? 
Früher waren psychische Erkrankungen sehr stigmatisiert – es gab gesellschaftlich keinen Umgang damit, so wurde es zum Tabuthema. Da es einfach keine Hilfen für Eltern mit psychischer Erkrankung gab, war die schnellste Maßnahme die Kinder erstmal aus Familien rauszunehmen. Heutzutage werden psychische Erkrankungen diverser betrachtet und begleitet. Es geht im Kontext Familie weniger um die Erkrankung selbst, als darum, wie sich eine Krankheit auf das Kind auswirkt und wie man einen gemeinsamen Umgang dafür finden kann.  

GRIPS: Wie lest ihr »Kuckucksnest« – wer sind Nim & Saffa?

Jugendamt Mitte: Wir haben Saffa als die ältere Schwester, die kompensiert: einkaufen geht, häufig sehr gut mit Geld umgehen kann und sich um die Mutter kümmert. Das ist ein bekanntes Muster. Außerdem haben wir die kleinere Schwester, Nim, die häufig als witzig, laut, vielleicht störend oder herausstechend wahrgenommen wird. Nim ist auf der einen Seite entlastet, dadurch dass Saffa so viel Verantwortung übernimmt. Andererseits ist sie hoch belastet, weil sie große Angst hat, so zu werden wie ihre Mutter.

Nim: „Wenn man von einer Person großgezogen wird, die verrückt ist, stehen die Chancen bei ungefähr genau 99,876468 Prozent, dass man später selbst verrückt wird.“ aus „Kuckucksnest, Szene 7

GRIPS: Ist Nims Angst berechtigt?

Jugendamt Mitte: Es ist wahr, dass Kinder aus Familien mit psychisch erkrankten Elternteilen eine höhere Vulnerabilität haben. Aber das bedeutet noch nicht, dass es eine Kausalität gibt, dass ich genauso werde wie mein Elternteil mit psychischer Erkrankung. Dafür ist das Leben einfach zu willkürlich! Kinder entwickeln sich so unterschiedlich. Auch wenn sie im gleichen Haushalt aufwachsen, siehe Nim und Saffa. Häufig entwickeln Kinder gar nicht diese spezifische psychische Erkrankung des Elternteils, sondern haben einfach einen Hilfebedarf aufgrund dessen, wie sie groß geworden sind. Die Zahl, die Nim nennt, ist also erstmal ein Spiegel der Angst. Es zeigt das große Bedürfnis, darüber sprechen zu wollen.

GRIPS: Was ist für Eure Arbeit wichtig?

Jugendamt Mitte: Dass es genügend Informationen darüber gibt, was wir eigentlich im Jugendamt machen. Vor allem über unsere niederschwelligen Hilfestellungen. So weit, wie für Saffa und Nim, muss und sollte es nicht kommen, um beim Jugendamt Unterstützung zu suchen! Außerdem übernimmt die Schulsozialarbeit eine enorm wichtige Rolle, denn sie sind vor Ort und kennen die Kinder besser. Es ist außerdem hilfreich, wenn Menschen im Umfeld der Kinder als Ressource wahrgenommen werden und sich selbst auch als solche verstehen: Bei »Kuckucksnest« ist zum Beispiel Hausmeister Jeffrey eine solche Person.

GRIPS: Was ist Eure Hoffnung für dieses Stück?

Jugendamt Mitte: Dass dieses eine von vier Kindern der Statistik zum ersten Mal denkt: „Das bin ja ich!“