Das gab es noch nie: Unabhängig voneinander haben sowohl die Jugend- als auch die Fachjury sich in diesem Jahr für die gleiche Produktion entschieden. Hier sind die beiden Laudationes auf SELFIE:
Laudatio der Jugendjury
„Wir haben uns entschlossen „Selfie“ vom GRIPS-Theater als bestes Jugendtheaterstück auszuzeichnen. Es handelt von einem Mädchen namens Emma, die in den großen Bruder, Chris, ihrer besten Freundin, Lily, verliebt ist. Auf einer Party kommen sie sich näher, sogar sehr nah, doch Emma kann sich am nächsten Morgen nicht erinnern, was passiert ist. Das einzige was sie weiß, sie wollte keinen Sex. Es wird die Polizei eingeschaltet, diese beginnt Fragen zu stellen und Emma ist sehr unsicher und verzweifelt mit dem was passiert ist. Es entstehen Konflikte, zu den die Figuren unterschiedlich stehen und damit aufeinander treffen. Und auch wenn Chris eigentlich keine bösen Absichten hatte, hat er Emma verletzt und etwas falsches getan.
Dieses Stück ist voller moralischer Fragen, es regt zum Nachdenken an und bezieht dabei alle Perspektiven ein. Die Handlung wird verständlich und offen dargelegt, dadurch kann man ein Urteil über die Situation fällen und erkennt, was alles falsch gelaufen ist. Obwohl ein gewisser Freiraum für die eigene Ansicht zur Situation eingeräumt wird, ist trotzdem klar: Man darf über seinen Körper immer selbst bestimmen. Wir haben es so verstanden, dass das Stück uns zeigen möchte, dass nur ein ja auch ein ja ist und man sich immer versichern muss, ob das Gegenüber auch soweit gehen möchte, wie man selbst. Jemandem den Anspruch auf Selbstbestimmung über seinen eigenen Körper zu nehmen, dazu hat niemand das Recht und man muss mit sehr harten Konsequenzen rechnen, wenn man es trotzdem tut. Die Moral war demzufolge von großer Bedeutung.
Die Emotionen der Figuren werden klar und das nicht zuletzt aufgrund der überragenden Schauspieler dargestellt. Man wird in die Geschichte hineingezogen und fühlt selbst mit – das verstärkt noch einmal die Wirkung der Moral.
Trotz des so harten Themas, ist es nicht nur lehrreich sondern auch spannend, sich das Stück anzusehen. Man weiß nicht was als nächstes passieren soll, denn die Figuren haben selbst keine Ahnung, dieses Unwissen und die Unsicherheit, werden gut transportiert. Außerdem arbeitet „Selfie“ ganz stark mit Empathie, wir fühlten mit Emma mit, ihre Verzweiflung mit der Situation sprang auf uns über.
Als besonders herausragend empfanden wir die Bühnen- und Kostümgestaltung, insbesondere den Umgang mit dem, in einem Halbkreis hängenden, Vorhang. Auf diesen wurden während des Stückes Bilder projiziert, wodurch es zu mehr Bewegung kam und so auch dazu, dass die Konflikte deutlicher wurden. Die Kostüme waren farblich aufeinander abgestimmt, das war erst einmal angenehm zum Ansehen, aber hatte vermutlich ebenfalls eine tiefere Bedeutung. Die wir so verstanden haben, dass die Figuren sich von außen nicht stark voneinander unterscheiden, sie kommen aus der gleichen Gegend, gehen auf die gleiche Schule, sind innerhalb der Gesellschaft gleichgestellt etc. Doch in ihnen drin, sieht es sehr unterschiedlich aus.
Abschließend wollen wir sagen, dass wir allen sehr ans Herz legen, sich „Selfie“ anzusehen. Es ist ein Thema, zu dem man nicht sehr häufig ein Jugendtheaterstück sieht und das macht es um so wichtiger. Wenn man wieder herauskommt, hat man etwas dazu gelernt, was größte Bedeutung hat.“
Laudatio der Fachjury:
„Es ist in der Geschichte des IKARUS noch nie vorgekommen, dass die Jugendjury und die Fachjury dieselbe Inszenierung ausgezeichnet haben. So wie es ja generell kein Standard ist, dass junge und erwachsene Menschen die gleichen Ansichten teilen. Also: Stimmt hier etwas nicht?
Keineswegs. Wir haben es nur mit einem außergewöhnlichen Fall zu tun. „SELFIE“ – die GRIPS-Theater-Inszenierung, der auch wir den IKARUS als herausragende Produktion im Bereich Jugendtheater verleihen – verhandelt ein Thema, von dem sich alle angesprochen fühlen können. Und sollten. Es geht um das, was im Englischen consent heißt. Die Zustimmung, das Einverständnis, die Übereinkunft.
Die kanadische Autorin Christine Quintana, von der das bereits mehrfach preisgekrönte Stück „SELFIE“ stammt, hat in einem Interview den Wunsch geäußert, dass die Zuschauer*innen aller Altersklassen nach den Aufführungen ihre eigenen Beziehungen genau daraufhin zu befragen beginnen: Werde ich so behandelt, dass meine Grenzen respektiert bleiben? Und handele ich vielleicht selbst übergriffig? Quintana bezieht das nicht nur auf sexuelle Verhältnisse, sondern auf alle sozialen Kontexte, auf Familien- wie auf Freundeskreise. Gerade dort, wo Gewalt nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen ist – weil sie zwischen Vertrauten stattfindet, weil die Situation vermeintlich nicht so eindeutig ist – muss umso genauer hingeschaut werden.
Eine Verletzung – nämlich die des Rechts auf Selbstbestimmung – findet zum Beispiel dort statt, wo das Foto einer Person ohne ihr Einverständnis in den sozialen Medien gepostet wird. Was in mehrfacher Hinsicht Bildstörung und Kontrollverlust bedeutet, wie in „SELFIE“ beschrieben.
Im Stück heißt es einmal, dass von jedem Menschen drei Versionen existierten. „Die, wofür dich alle halten“. Diejenige, „die du am liebsten wärst“. Und schließlich: „Das echte Du. Was auch immer das heißt“. Damit, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Außendarstellung und Innenleben in Einklang zu bringen, sind die meisten ein Leben lang beschäftigt. Ganz zu schweigen davon, den eigenen wahren Kern aufzuspüren. Aber niemandem darf unterwegs die Deutungshoheit über das eigene Bild, über die eigene Geschichte genommen werden. So wenig, wie Zweifel als Reaktion angebracht sind, wenn eine Überlebende von sexualisierter Gewalt ihre Erfahrungen mitzuteilen versucht. Selbst wenn sie im Dunkel der Erinnerung liegen, wie bei Emma in „SELFIE“.
Eine der großen Stärken der Inszenierung von Regisseurin Maria Lilith Umbach ist ihr Gespür für die Uneindeutigkeiten, mit denen Christine Quintana im Stück einen klaren Fall umstellt: eine junge Frau hatte gegen ihren Willen Sex. No consent. Daran ändert der Umstand nichts, dass der Täter, Chris, in der Dramatis personae als „Ein guter Typ“ geführt wird und auch so auftritt. Als einer, der mit zerknautschtem Blumenstrauß und zerknirschtem Gesicht noch nach der Tat für sich zu werben versucht. Und die Tatsache, dass Emma selbst auf ihrem Instagram-Account ein zweifelhaftes Spiel mit Schein und Wirklichkeit gespielt hat, gibt ihrer Freundin Lily nicht das Recht, ein Kuss-Foto zu verbreiten, das die Wahrheit mit einer Lüge überblendet.
„SELFIE“ am GRIPS – nuanciert und mitnehmend gespielt von Yana Ermilova, Lisa Klabunde und Marius Lamprecht – geht klug mit solchen Doppelbelichtungen um. Und fordert dazu auf, hinter die Bildoberfläche zu schauen.
Als die Autorin ihr Stück an einer High School mit Schüler*innen diskutiert hat, waren die Reaktionen zunächst bezeichnend. Die meisten schoben Emma die Schuld an dem Geschehenen zu: Sie hätte ja nicht trinken müssen. Sie hätte doch wissen können, was auf einer Party passieren kann. Bis eine Schülerin sagte: „Maybe we shouldn’t blame the victim“. Vielleicht sollten wir nicht das Opfer verantwortlich machen.
„SELFIE“ – ästhetisch und musikalisch auf Augenhöhe mit dem jungen Publikum, ohne sich anzubiedern – spricht nicht zuletzt die Einladung aus, über ein wichtiges Thema ins Gespräch zu kommen und im Austausch zu bleiben, bis die letzte Unklarheit beseitigt ist. Richtig von Falsch zu unterscheiden, das ist schließlich (wie so vieles andere) ein lebenslanger Lernprozess. Etwas, das junge und erwachsene Menschen gemeinsam haben.
Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des IKARUS!“