„Du siehst nicht aus wie eine Obdachlose“

Zum heutigen Welttag der Sozialen Gerechtigkeit stellen wir euch ein Interview vor, welches in der Sonderausgabe des Strassenfegers zur Produktion AUS DIE MAUS im September 2016 erschien.

„Wir glauben an eine Welt, die geprägt ist von sozialer Gerechtigkeit, Zusammenhalt und dem Respekt vor der Menschenwürde. Dazu gehört, dass alle Menschen ein Dach über dem Kopf haben, gut versorgt sind und sie in Notsituationen Unterstützung bekommen. Wir unterstützen Menschen dabei, Auswege aus ihrer Notsituation zu finden. Bei unserer Arbeit legen wir großen Wert auf eine hohe Qualität in der Umsetzung unserer Projekte und unseres Handelns. Wir sind unpolitisch und überparteilich. Die Menschenwürde steht für uns im Mittelpunkt. Wir agieren aus Überzeugung für die Sache und verstehen uns als Sprachrohr für die Menschen, die zu uns kommen. Den Verein, zuletzt umbenannt in Strassenfeger e.V., gibt es seit 1994. Er wurde bekannt durch das gleichnamige Straßenblatt. Seit damals unterstützt der Verein Strassenfeger e. V. Menschen ohne festen Wohnsitz dabei, Auswege aus ihrer Notsituation zu finden. Mit einer ganzjährigen Notübernachtung, die auch Platz für obdachlose Familien bietet, einer gesunden Übrigküche, der sozialen Beratung und dem Wohnprojekt Oderberger.“

Strassenfeger e.V.

Kinder stellen im Café Bankrott obdachlosen Menschen Fragen

Am 28. Juni haben Schüler_innen der dritten Klasse von der Paula Fürst Gemeinschaftsschule zusammen mit dem GRIPS-Produktionsteam von »Aus die Maus« an einer Führung durch die Notübernachtung für obdachlose und wohnungslose Menschen des Obdachlosenvereins mob e.V. in der Storkower Straße teilgenommen. Anschließend durften die Kinder im Café Bankrott drei obdachlosen Menschen ihre Fragen stellen. Claudia, Gabriela und Christian haben sich die Zeit genommen, die für alle etwas ganz Besonderes war.

Kinder: Haben Sie manchmal draußen Angst? Zum Beispiel nachts oder so?

Christian: Es gibt immer Gefahren. Ich bin schon häufiger ausgeraubt worden. Eigentlich muss man immer mit einem Auge offen schlafen.

Claudia: Ich habe weniger Angst davor aus- geraubt zu werden. Dinge sind alle ersetzbar. Aber Angst vor Gewalt, das habe ich schon. Ich versuche dann nachts gar nicht zu schlafen, nur spazieren zu gehen. Aber das ist anstrengend, die ganze Nacht spazieren zu gehen.

Wie sind Sie obdachlos geworden?

Christian: Ich hatte ein Unternehmen. Bin insolvent gegangen und weil ich privat gehaftet habe, habe ich alles auf einmal verloren. Und dazu kam die Sturheit. Ich wollte mir nicht helfen lassen. Ich wollte wieder arbeiten, aber ich bin schon 61 Jahre alt. Immer heißt es ich wäre überqualifiziert oder zu alt. Fünf Jahre war ich auf der Straße. In zwei Wochen habe ich endlich wieder eine Wohnung, hoffe ich.

Gabriela: Ich versuche immer zu arbeiten. Auch ohne Wohnung. Ich habe den strassenfeger verkauft. Und oft staunen die Leute, die sagen, ich sehe nicht so aus, als ob ich obdachlos wäre. Aber das liegt nur an der Hygiene. Waschen kann man sich überall und man bekommt auch saubere Kleidung, wenn man sie braucht.

Claudia: Aber am Anfang ist man nicht vorbereitet. Ich habe die ersten zwei Wochen auf der Straße nicht gewusst, wo man sich waschen kann, wo es Kleidung oder etwas zu essen gibt. Ich bin herumgeirrt und meine Haare waren ganz verfilzt, weil ich nicht mal einen Kamm hatte. Nach zwei Wochen hat mich eine Frau mitgenommen zu einer Tagesstätte zum Essen, da habe ich dann langsam erfahren, was es wo gibt.

Haben Sie Kinder?

Claudia und Christian schütteln die Köpfe.

Gabriela: Ich habe Kinder in Rumänien. Ich will sie zu mir holen, aber erst wenn ich alles geregelt habe. Kinder brauchen ein geregeltes Leben. Es muss alles vorbereitet sein; Schule, Wohnung und so weiter.

Haben Sie Kontakt zu ihrer Familie?

Christian: Ich habe einen Bruder in Bayern. Aber es gibt so ein Sprichwort: Wenn man in Bayern pleite geht, wird man von der Seite angeschaut. Da musste ich weg.

Claudia: Ich habe keine Familie.

Was machen Sie den ganzen Tag?

Christian: Zur Not Flaschen sammeln. Ich bettele nicht. Ich arbeite wenn ich kann, zum Beispiel als Elektriker bei einer kleinen Firma.

Gabriela: Ich habe einen starken Willen. Ich arbeite immer. Ich verkaufe Zeitungen, ich koche, ich putze. Ich will nur, dass man mich arbei- ten lässt. Ich kämpfe mich durch.

Claudia: Ich bilde mich. Ich lese viel. Es gibt ja öffentliche Büchereien. Da gibt es so viele Bücher und auch Internet.

Wie war Ihr Leben als Kind?

Christian: Ich bin in Bayern aufgewachsen. Im Grünen. Ich hatte eine sehr behütete Kindheit.

Claudia: Meine Kindheit war auch behütet. Aber es war nicht so ordentlich geputzt wie heute alles ist. Ich bin in Spandau aufgewachsen. Wir haben in der Nachbarschaft gespielt. Draußen, in Ruinen und im Wald, nicht auf diesen sauberen Spielplätzen.

Gabriela: Ich bin in Rumänien bei meinen Großeltern aufgewachsen. Ohne Eltern. Mit 13 Jahren hatte ich dann die Großeltern nicht mehr. Seitdem habe ich mich alleine durchgeschlagen, alleine Abitur gemacht, mich alleine um mein Leben gekümmert.

Was sind die Schwierigkeiten auf der Straße?

Claudia: Das Schwierige ist, immer aufs Neue dafür zu sorgen, dass man die Nacht übersteht.

Christian: Man muss sich um alles alleine kümmern, muss einen Schlafplatz suchen, einen der sicher ist und nicht so einsichtig. Man muss etwas zu Essen besorgen und wenn man zu den Ämtern muss, ist der Tag direkt um.

Gabriela: Das Problem ist doch: Ohne Wohnung keine Arbeit.

Christian: Auch Arbeitslosengeld wurde mir verweigert, weil ich keinen festen Wohnsitz hatte, obwohl ich immer gearbeitet habe.

Habt Ihr auf der Straße Freunde?

Christian: Bekannte. Freunde sind das nicht. Man ist in der gleichen Situation, und wenn die sich ändert, ändern sich auch die Bekanntschaften.

(Die anderen nicken.)

Was ist mit Freunden von früher?

Claudia: Wenn man alles verliert, verliert man auch seine Freunde.

Fühlen Sie sich mit mehreren sicherer?

Christian: Mehr Leute machen auch mehr Dreck. Überall sind dann leere Flaschen. Es kann sein, dass man dann den Ort verlassen muss wegen der anderen und wegen des Drecks. Außerdem gibt es mit mehreren auch mehr Ärger – also ich bin lieber alleine.

Claudia: Ich habe mal mit anderen Frauen im Vorraum einer Sparkasse übernachtet. Eine ganz Weile sogar. Alleine wäre ich da nie hereingegangen. Doch als wir dann rausflogen, hat sich die Gruppe aufgelöst.

Was macht Ihr an Eurem Geburtstag?

Christian: Ich versuche mit mit Kollegen und Bekannten zu feiern. Aber es gab auch Geburtstage, da war ich alleine. Das war nicht so schön. Das war keine gute Zeit.

Gabriela: Wenn man zu viele Probleme hat, denkt man nicht an den Geburtstag. Man vergisst ihn einfach.

Claudia: Am Geburtstag trinke ich einen Kaffee mit Freundinnen. Geschenke gibt es natürlich nicht.

Sprecht Ihr Fremdsprachen? Ihr wart doch auch in der Schule?

Gabriela: Ich spreche Rumänisch, Spanisch, Englisch und ein bisschen Deutsch.

Christian: Englisch und Latein.

Claudia: Ich war Fremdsprachenkorrespondentin. Das war mein Beruf.

Wann fühlt man sich glücklich?

Claudia: Ich denke, dass ist Veranlagungssache. Es ist eine Frage, welche Möglichkeiten ein Mensch hat, glücklich zu sein. Man kann sich auch über kleine Sachen freuen, wenn man friert und dann scheint die Sonne und schon ist man glücklich. Man muss die Punkte schon suchen, aber es gibt sie.

Gabriela: Ich habe lange keine Arbeit gefunden. Ich durfte nicht arbeiten. Als ich dann eine Arbeit hatte, das war für mich Glück.

Grips: Habt Ihr noch Anmerkungen, die Ihr den Kindern mit auf dem Weg geben wollt?

Christian: Obdachlosigkeit, das kann jedem passieren. Davor ist heutzutage keiner mehr gewappnet. Wenn es dann passiert, muss man einen kühlen Kopf bewahren.

Claudia: Man darf sich den widrigen Umständen nicht hingeben. Man darf sich nicht unterkriegen lassen. Man muss die Zügel in der Hand behalten.

Die Sonderausgabe des STRASSENFEGER zu AUS DIE MAUS | zum Durchblättern, Lesen und Download

Wer STRASSENFEGER e.V. unterstützen will, findet hier alle Informationen: https://strassenfeger.org