Das Blumenstrauß-Projekt

Ein von Inge Deutschkron initiiertes Projekt gegen das Vergessen

In Gedenken an die Befreiung der Gefangenen im Konzentrationslager Auschwitz am 27. Januar 1945 initiierte die Publizistin Inge Deutschkron erstmals im Jahr 2006 das „Blumenstrauß-Projekt“. Ihre Idee: Junge Menschen bekommen am Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus (27. Januar) die Möglichkeit, sich mit Überlebenden des Holocaust zu treffen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und ihnen als Dank einen Blumenstrauß zu überreichen. Inge Deutschkron Idee entwickelte sich zu einem gemeinsamen Projekt mit der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft sowie der Senatskanzlei, die jährlich alle Berliner Schulen zur Teilnahme am Blumenstrauß-Projekt einladen.

Normalerweise treffen sich am Ende des Projekts alle Teilnehmenden zu einer Vorstellung von AB HEUTE HEISST DU SARA (nach Inge Deutschkrons autobiographischen Bericht „Ich trug den gelben Stern“) im GRIPS Theater, wo die entstandenen Arbeiten im Foyer ausgestellt werden.

In diesem Jahr gibt es das Blumenstraußprojekt ausschließlich im digitalen Raum. Da die Übergabe eines Blumenstraußes in diesem Jahr entfällt, soll die Anerkennung der Überlebenden anders sichtbar werden. So können z.B. Briefe über die Senatsverwaltung an die wenigen noch verbliebenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gesendet werden, aus denen sich möglicherweise ein Briefwechsel ergibt. Das Theaterstück wird als Mitschnitt zur Verfügung gestellt. Alle Berliner Schulen und Lehrenden sind herzlich eingeladen, sich mit ihren Schüler*innen vom 22.1. bis 29.1. zu beteiligen.

Doch wieso war Inge Deutschkron das Blumenstrauß-Projekt so wichtig? Inge Deutschkron überlebte mit ihrer Mutter als Jüdin in Berlin den Holocaust dank vieler Berliner*innen, die sie versteckten. Seit den 60ern Jahren arbeitete sie als Korrespondentin der Zeitung Ma’ariv und lebte in Tel Aviv. Ermutigt durch ihre Erfahrungen mit der jungen Generation, die sie 1989 bei den Proben zu AB HEUTE HEISST DU SARA kennenlernte, kehrt Inge Deutschkron Anfang der 90er Jahre wieder in ihre Heimatstadt Berlin zurück, wo sie auch noch heute lebt. Neben ihren vielfältigen publizistischen Tätigkeiten war sie u.a. auch als Zeitzeugin tätig, und besuchte bis in die 2000er Jahre weit über 150 Berliner Schulen. Was sie hier erlebte, stellte sie 2000 in Stockholm bei einer internationalen „Holocaust-Konferenz“ vor, eine gekürzte und übersetzte Fassung geben wir hier wider:

„Meine Erfahrungen als Zeitzeugin“ von Inge Deutschkron

„Es war im Jahr 1982, als mich ein Lehrer bat, in Berliner Schulen über meine Erfahrungen während des Nazi-Regimes zu berichten. Ich war einverstanden, und er organisierte mehrere Schulbesuche. Einige Jahre später mußte er eingestehen, daß er große Schwierigkeiten habe, überhaupt Schulen zu finden, die an meiner Geschichte interessiert seien. Auch waren meine Erfahrungen in den Schulen, die mich eingeladen hatten, nicht die besten. Ich wurde mit Fragen konfrontiert wie: Wie lange und mit welchem Recht soll das deutsche Volk noch Entschädigungszahlungen an Juden leisten? Oder: Welches Recht haben Juden, das ganze deutsche Volk anzuklagen? Die Mehrheit der Schüler fragte gar nichts. Manchmal geschah es allerdings, daß diese Schüler mich nachher umringten und von ihren Großeltern berichteten, die ihnen gesagt hatten, sie hätten nichts gewußt, nichts gesehen und nichts gehört von all dem, worüber ich gesprochen hatte. 

Das war 1982. Im Jahr 1989 war ich mit einer völlig anderen Situation konfrontiert. Volker Ludwig, der Leiter des GRIPS Theaters in Berlin, hatte sich 1987 an mich gewandt mit dem Wunsch, meinen autobiographischen Bericht „Ich trug den gelben Stern“ als Theaterstück zu adaptieren. Er argumentierte, daß junge Deutsche von meiner Geschichte lernen könnten, wohin Antisemitismus, Rassismus und übersteigerter Nationalismus führen können und verwies auf heutige Gefahren für Minderheiten in Deutschland. Ich stimmte dem Plan sofort zu. (…) Durch den Erfolg des Stückes entstand eine rege Nachfrage nach Schulbesuchen und Diskussionen mit Schülern, um Fragen zu beantworten, die sich aus der Aufführung ergeben hatten, um mehr aus meinem Leben zu erfahren.

Seit über zehn Jahren gehe ich in Schulen, und die Nachfrage läßt nicht nach, obwohl ich keine Werbung dafür betreibe und, aus Sicherheitsgründen, nicht direkt zu erreichen bin. Aber die Anfragen kommen über die Jüdische Gemeinde, die israelische Botschaft, meine Verleger oder über das GRIPS Theater. Oft sind es die Schüler selber, die Kontakt zu mir aufnehmen. Einladungen zu Schulbesuchen kommen aus allen Schultypen. Die Kinder und Jugendlichen sind zwischen 10 und 18 Jahren. Voraussetzung ist für mich, daß die Schüler ein Basiswissen über die Zeit des Nationalsozialismus haben und die Zahl der Diskussionsteilnehmer 30 nicht übersteigt. Als Einführung in das Thema lese ich Passagen aus einem meiner Bücher oder zeige ein Video über mein Leben in Nazi-Deutschland. Oder ich erzähle den Kindern über eine Zeit, in der ich so alt war wie sie heute. Dann beginnt das Gespräch.

Eine der ersten Fragen ist häufig, ob die Deutschen in der Lage waren, Hitlers wahre Absichten zu erkennen, bevor er an die Macht kam. Das ist eine wichtige Frage, da doch so viele Deutsche noch heute darauf bestehen, nichts gewußt zu haben.  Außerdem interessiert die Jugendlichen, wie und warum Hitler die Massen derart anzog, daß sie sogar zu Morden bereit waren. Eine sehr typische Frage ist die, ob die Menschen wußten, was in den Konzentrationslagern geschah. Manche finden es sehr schwierig zu verstehen, wie es überhaupt möglich war, Menschen als Juden zu identifizieren. Und: „Warum haben die Juden nicht einfach ihre Nachbarn um Hilfe gebeten?“ „Warum haben Juden sich diskriminieren lassen?“ – Fragen, die zu beantworten nicht leicht fallen, weil die heutigen Jugendlichen in großer Freiheit in einem demokratischen Staat leben und sich nur schwer hineinversetzen können in ein Leben unter einer Diktatur.

Im Laufe der Jahre haben sich für Diskussionen und Lesungen zu diesem Gegenstand verschiedene Formen der Vermittlung entwickelt. Zum Beispiel haben Schüler einen Abend organisiert für die ganze Schule, auch die Eltern und Lehrer, an dem ich Passagen aus meinem autobiographischen Bericht  „Ich trug den gelben Stern“ vorlas und ein Saxophonist – einer ihrer Mitschüler, 17 Jahre alt – zwischen den Abschnitten improvisierte. Es war ein großer Erfolg, den wir oft wiederholt haben. In einer anderen Schule wurde eine Podiumsdiskussion organisiert, bei dem auch die Zuhörer Fragen an die Teilnehmer richten konnten. Es gab auch eine Reihe von Lesungen  aus dem Stück von Volker Ludwig und Detlef Michel, mit den Liedern Volker Ludwigs und Hansgeorg Kochs, gesungen von Schauspielern des GRIPS Theaters. In vielen Schulen führen Theatergruppen ihren Mitschülern, Eltern und Lehrern Szenen aus dem Stück „Ab heute heißt du Sara“ vor. 

Ich möchte damit zeigen, daß sich das Interesse von 1982 bis heute drastisch gewandelt hat. Die Schüler, die ich heute treffe, sind meistens locker, frei von Vorurteilen, weder schüchtern noch ängstlich, ihre Meinung zu äußern über ein Thema, das – streng genommen – ihre Großeltern angeht. Sie sind begierig, Informationen zu erhalten über diesen schreckliche Abschnitt der deutschen Geschichte. Meines Erachtens gehört zu den Gründen dieser Wandlung, daß die Eltern der heutigen Jugend von ihren Eltern und in den Schulen (der 50er Jahre) nur wenig über die Nazis und ihre Verbrechen hörten und ihre Kinder kaum beeinflußt haben.

Ich muß betonen, daß sich die Erfahrungen, von denen ich hier berichte, auf West-Berliner Schulen beziehen. Nur wenige Ost-Berliner Schulen haben bis heute Interesse gezeigt, mich zu Lesungen oder Diskussionen über die Nazizeit und das Schicksal jüdischer Mitbürger einzuladen. Ich bedaure das, gerade angesichts der rechtsextremistischen Vorkommnisse in Berlin und Brandenburg in den vergangenen Jahren.

Das Stück des GRIPS Theaters und diese Ausstellung „Blindenwerkstatt Otto Weidt“  – beide erweisen sich als unglaublich wichtige Hilfen, jungen Leuten die Nazivergangenheit und das Leiden der Opfer nahezubringen. Hier bekommt die Verfolgung konkrete Gestalt und bleibt nicht gespenstische Szene, die eher erschrickt als etwas zu lehren.“

Mehr über Inge Deutschkron und ihr Werk: Die Inge-Deutschkron-Stiftung