Da wäre mal eine Neuauflage fällig

Interview zur Entstehung des Stückes MANNOMANN im Jahre 1971

Vor knapp 50 Jahren haben Volker Ludwig, Reiner Lücker und das Ensemble das Stück MANNOMANN geschrieben, das erste Kinderstück, das sich mit den patriarchalen Gesellschaftsstrukturen dieser Zeit beschäftigte. Um sich das vorzustellen, wie der Alltag damals für Männer und Frauen aussah, haben wir zwei Zeitzeug*innen befragt, die von Anfang an mit dem GRIPS verbunden waren:

Regina Pantos, seit Beginn an GRIPS-Fan, ehemalige Studiendirektorin der 1. Staatlichen Fachschule für Sozialpädagogik Berlin, mit Schwerpunkt auf Kinder- und Jugendliteratur und Theater. 1971 war sie selbst alleinerziehende Mutter. Und Dietrich Lehmann, der damals schon als Ensemblemitglied beim „Kindertheater im Reichskabarett“, dem Vorläufer des GRIPS Theaters, aktiv bei der Entstehung des Stücks mitgewirkt hat.

GRIPS: Wie seid ihr damals auf die Idee gekommen, mit MANNOMANN ein Stück gegen das Patriarchat und über das Aufbegehren und Wehren zu schreiben?

Dietrich Lehmann: Gleich mal vorab: Es gab damals mehrfach die Bedenken, dass man über dieses Thema kein Stück schreiben könne, und als ich dann meinte, Ibsen hätte das aber schon um 1880 gekonnt („Nora oder ein Puppenheim“), war das für die Autoren, u.a. für Volker Ludwig, eine Herausforderung.

Wir sind damals auf das Thema gekommen, weil wir bei Diskussionen in Schulklassen gemerkt haben, dass, wann immer jemand auf Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen kam, sofort in den Klassen die Luft brannte, ob in der Gropiusstadt in Neukölln-Süd oder in Spandau. Wir fragten uns, was da los ist. Wir wollten es herausfinden. So entstand der Wunsch, mit dem Kernensemble von „Trummi kaputt“ und anderen KollegInnen aus „Balle, Malle, Hupe und Artur“ zusammen (die weiblichen und die männlichen Spieler*innen) ein Stück über das Thema zu entwickeln.

Man muss sich klarmachen: 1968 war 1971 drei Jahre her. Die ersten Kinderläden waren gegründet, Mütter wollten ihre Kinder nicht mehr so erziehen, wie sie erzogen worden sind, die Frauenbewegung gewann nach `68 wieder an Kraft, auch an den Schulen, im Lehrerkollegium und im Schulalltag allgemein, auch an den staatlichen Schauspielschulen und auch im „ GRIPS“-Theater, in dem seit 1969 mehrere sehr engagierte junge Schauspielerinnen sich einbringen wollten.

GRIPS: Aber wie war damals generell die Rolle der Frauen, auch die von Kindern? Wie muss man sich das vorstellen, was hieß das im Alltag? Und was hieß es für eine Frau, alleinerziehende Mutter zu sein?

Regina Pantos:     Ich habe 1964 mein Abitur an einem Gymnasium für Mädchen gemacht. Dort gab es u.a. Unterricht in Handarbeit und Hauswirtschaft. Unser Mathelehrer meinte vorm Abitur, all die komplizierten Sachen, die wir dafür lernen mussten, könnten wir sowieso wieder vergessen. Wichtig sei nur die Beherrschung der Prozentrechnung, damit wir als Hausfrauen nicht bei den Rabattmarken betrogen würden. Dann verteilte er Einladungen für die Bälle der jungen Bundeswehroffiziere, die in unserer Kleinstadt stationiert waren. Bei einigen funktionierte diese Art der Heiratsvermittlung auch. Von den 21 Abiturientinnen meiner Klasse haben 4 ein Hochschulstudium abgeschlossen, 12 blieben in meiner Heimatstadt und wurden an der Pädagogischen Hochschule Grundschullehrerinnen. 1974 waren aber bis auf 4 alle berufstätig.

Unsere Elterngeneration war durch den Nationalsozialismus, den Krieg und die Nachkriegszeit geprägt. Das hieß für die Frauen und Kinder: Gehorsam sein, Rücksicht auf die Väter zu nehmen, die teilweise an Kriegsverletzungen litten oder traumatisiert waren, Gefühle zu unterdrücken und zu rackern und zu sparen, um sich all die neuen tollen Sachen, die auf den Markt kamen, leisten zu können. Da viele Männer im Krieg gefallen waren, gab es viele Frauen, die ihre Kinder allein erziehen mussten. Ob sie Hausfrauen waren oder berufstätig, hing dann von ihrer Versorgungssituation ab. Für Frauen unehelicher Kinder galt in der BRD das BGB vom 1.1.1900: Das Kind bekam einen Vormund von Amts wegen, der die elterliche Gewalt hatte. Mit dem Vater war es nicht verwandt. Die Mutter hatte das Recht und die Pflicht für das Kind zu sorgen. Wenn sie keine Familie hatte, die sie dabei unterstützte und selbst arbeiten gehen musste, verschwand das Kind sehr schnell im Heim. Ich war ein uneheliches Kind. Ich hatte aber das Glück, bei sehr liebevollen Großeltern aufzuwachsen. Ich wusste einerseits, dass es von Vorteil war, klug und brav zu sein als Mädchen. Aber von meinem Großvater andererseits auch, dass man sich wehren musste und jede/r um seine Rechte kämpfen sollte.

(In der DDR hatte die Mutter das volle Sorgerecht. Die verpflichtende Vormundschaft wurde erst 1998 (!) abgeschafft.)

Ich wollte nach dem Abitur weg aus der Enge der Kleinstadt und ertrotzte mir ein Studium an der FU in Berlin. 1966 heiratete ich einen griechischen Kommilitonen und wurde Mutter. Einen Kindergartenplatz und eine Wohnung gab es ohne festes Einkommen und als Ausländer auf legalem Weg für uns nicht. Unsere Studienzeit verbrachten wir als Hauswart und Putzfrau in der mietfreien Kellerwohnung einer Villa in der Nähe der Uni. Dazu kam die Militärdiktatur in Griechenland (1967-1974), die ihre Auswirkungen auch auf unsere Familie hatte: Reiseverbot, Passentzug, Bespitzelung. Politische Aktivitäten schweißten viele Studentinnen und Studenten zusammen, auch unsere kleine Familie. Aber sie änderten, trotz aller theoretischen guten Vorsätze, wenig an den traditionellen Geschlechterrollen. Die Kinder bekamen und versorgten weiter die Frauen und auf den politischen Veranstaltungen dominierten weiter die Männer. Sie bekamen die besseren Jobs, auch wenn sie schlechter waren als die Frauen. Das war an der Uni nicht anders als in der Fabrik. Und für eine verheiratete Frau mit Kind, einem griechischen Namen und einem Magisterexamen in Literaturwissenschaft waren die Chancen auf einen guten Job gleich Null. Meinen Traumjob, Journalistin, konnte ich vergessen.

1971 bekam ich durch Vermittlung von Freunden dann die Chance, einen Zeitvertrag als Lehrerin an der 1. Staatlichen Fachschule für Sozialpädagogik Berlin zu bekommen. Begründung des Schulrates: „Sie haben einen Sohn? Dann kennen Sie sich ja mit Kinderliteratur aus. Das kann man in der neuen Erzieherausbildung sicher gebrauchen.“ Ich kannte mich natürlich nicht damit aus, aber da man das Fach in Berlin nicht studieren konnte, kannten sich auch andere damit nicht aus. Und schnell war mir klar, dass Literatur für Kinder und Jugendliche genauso spannend war wie die für Erwachsene. Das galt dann später auch für das Theater. Es kam nur auf die Perspektive an.

Für mich hieß das im Alltag, viele verschiedene Dinge unter einen Hut zu bringen. Mein Sohn war in der 1. Klasse. Wir mussten beide um 8 Uhr in der Schule sein, aber nicht am gleichen Ort. Ich musste meine Unterrichtsvorbereitungen machen und mit meinem Sohn die Hausaufgaben. Einkaufen, kochen und putzen kamen dazu. Mein Mann fing ein neues Studium an. Und es dauerte nicht lange, da musste ich mich entscheiden: Ehe oder Beruf. Beides ließ sich nicht vereinbaren. Vor dieser Entscheidung standen viele Frauen. Ich entschied mich für den Beruf. Ich trennte mich von meinem Mann und er akzeptierte es. Bis 1977 hätte er allerdings rechtlich meine Berufstätigkeit verbieten können.

Eine Wohnung zu finden war damals genau so schwierig wie heute. Für eine alleinstehende Frau mit Kind und einem ausländischen Namen ging das nur mit Bestechung des Hauswarts und des Verwalters. Man nannte es „Abstand“ zahlen. Nach der Schule ging mein Sohn in einen Schülerladen. Die Eltern mussten einmal die Woche putzen und kochen. Auf den wöchentlichen Elternabenden, die manchmal bis Mitternacht gingen, gab es heftige Diskussionen über die richtige Art der Kindererziehung. Unsere Kinder sollten nicht nach oben buckeln und nach unten treten, sondern sich selbstbewusst und sozial verhalten. Geschlechtsspezifische Erziehung war tabu. Der Verschleiß an Erziehern war hoch…

GRIPS: Und wie ging es dann mit dem Stück selbst weiter?

Dietrich Lehmann: Unter den oben beschriebenen Vorzeichen begannen in der damaligen Gruppe intensive Recherchen, Diskussionen und ungemein kreative Vorgespräche, ein Brainstorming über Dramaturgie und neue Formen, erste Vorschläge zu Figurenkonstellationen, zu einzelnen Szenen und Abläufen. Dann musste aber irgendwann konstatiert den, dass dies alles nicht wirklich zusammenpasst, dann drängte aber die Zeit. Deswegen erhielten dann Volker Ludwig und Reiner Lücker vom Kollektiv den Schreibauftrag, natürlich auch mit dessen Unterstützung.  Wichtig war uns, das Stück mit einer zukunftsweisenden Perspektive enden zu lassen, im Sinne einer konkreten Utopie, in einem Ende als Anfang.

GRIPS: Ich vermute, dass ein Kinderstück zu dem Thema damals noch ein ganz anderes Gewicht in der Wahrnehmung hatte, als es heute der Fall wäre. Wie wirkte das Stück denn auf die Kinder, aber auch auf die erwachsenen Zuschauer*innen? Und wie kam das Feuilleton damit zurecht?

Regina Pantos: Als das Stück 1972 im Forum Theater gespielt wurde, war es revolutionär, weil es kein Märchen war, sondern simpler Familienalltag, den man lebte, aber normalerweise nicht betrachtete und reflektierte. In diesen Spiegel zu schauen, löste bei den Erwachsenen teilweise heftige Irritationen aus. In der Studentenbewegung und in unserem Schülerladen wurde mehr über Utopien geredet, als über den Erziehungsalltag, den wir selber praktizierten. In der Erzieherausbildung konfrontierten uns allerdings die Schülerinnen oft mit ihren Erfahrungen und holten uns vom hohen Ross der pädagogischen Utopie herunter. Ich war begeistert, weil ich fand, dass kein Lehrer so guten Unterricht zum Thema Geschlechterrollen und autoritäre Erziehung machen konnte, wie das Kindertheater mit dem Stück „MANNOMANN“. Da das auch andere Kollegen so sahen, wurde das Kindertheater ein fester Bestandteil der Erzieherausbildung an unserer Schule.

Die Kinder reagierten spontan auf komische Situationen, waren sehr still in kritischen Momenten und ergriffen Partei für Vater oder Mutter. Am Schluss waren sie froh, dass die Familie zusammenblieb und es einen versöhnlichen Schluss gab. Einen Schluss, auf den mein Sohn noch viele Jahre vergebens gehofft hat. Die Lieder aus dem Stück können wir auf jeden Fall noch heute singen.

Die politische Auseinandersetzung um das GRIPS Theater fand nach meiner Erinnerung verstärkt ab Mitte der 70er Jahre statt, als die Jugendstücke dazu kamen und das politische System der BRD hinterfragt wurde. Da musste ich dann auch gegenüber unserem Schulrat Stellung nehmen, warum ich auch weiter mit den angehenden Erziehern das GRIPS Theater besuchen wollte. Aber dank Mannoman! sangen wir: „Man muss sich nur wehren und auch die Fragen stellen, die die anderen stören“.

Ich denke, das Stück ist auch heute noch in vielen Punkten aktuell:

Die Rollen von Jungen und Mädchen und die Erwartungen an sie sind wieder genauso traditionell wie vor 50 Jahren. Die Arbeitsteilung im Haushalt funktioniert immer noch nicht richtig, wie die Corona-Krise gerade zeigt, und bei den Karrierechancen und der Bezahlung sind die Frauen immer noch benachteiligt. In meinen Augen wäre eine Neuauflage fällig!