GRIPS-Leiter Philipp Harpain über die Pläne, Projekte, Premieren und Feste der kommenden Spielzeit
GRIPS: Die bevorstehende Spielzeit dreht sich um die Fragen: Wo haben Kinder und Jugendliche ihren Platz im Leben? Was brauchen sie, wie sehen sie ihre gegenwärtige Lebenssituation und welche Perspektiven haben und welche brauchen sie?
P. Harpain: Es gibt bei Kindern und Jugendlichen eine große Verunsicherung in Anbetracht einer verunsichernden und verunsicherten Welt und Umwelt. Diese werden ausgelöst durch Kriege, die Klimakatastrophe, die Energiekrise und Inflation, aber auch durch die instabilen sozialen Systeme bei uns. Wo habe ich meinen Platz, wo kann ich mich entfalten, wo kann ich selbst kreativ sein, wo kann ich lernen? Das beschäftigt junge Menschen sehr. Und da merke ich eine gesellschaftliche Entwicklung, die es den Kindern zunehmend schwermacht, ihren Platz zu finden.
Ich gehöre der Boomer-Generation an, für die die Welt noch als veränderbar galt. In den 60er und 70er Jahren bis in die 2000er war die Stimmung bezüglich Globalisierungsfragen optimistischer. Das kippt bei der jetzigen Generation. Es ist nicht mehr sicher, ob ich erreichen kann, was ich will oder was der nächste Tag bringt. Die Welt, aber auch das Leben hier in Berlin, ist immer fragiler, fragwürdiger, unklarer. Daher nehmen wir für diese Spielzeit diese Frage auf.
GRIPS: Es sind vier Premieren geplant, der große Coup scheint dir aber mit der am 20. Februar 2025 geplanten großen musikalischen Abendproduktion BÜLOWSTRASSE gelungen zu sein.
P. Harpain: Die Komponisten Konstantin Scherer und Robin Haefs haben gemeinsam mit LEA (u.a.), eine der momentan bekanntesten Popsängerinnen, das Konzeptalbum „Bülowstrasse“ komponiert und geschrieben. Und Konstantin hat uns gefragt, ob wir nicht ein Theaterstück auf Grundlage der Geschichten des Albums rausbringen möchten. So einfach war das! Unsere Zusammenarbeit bei „Das schönste Mädchen der Welt“ vor zwei Jahren war beglückend und fruchtbar für uns alle, so dass wir ohnehin Lust hatten, miteinander weiterzuarbeiten. Konstantin und Robin sind mit GRIPS aufgewachsen. Da kam also vieles zusammen! Auf LEAs Album sind bereits unsere Schauspielenden zu hören und mit Juri Sternburg, der gerade mit der ARD-Serie „Die Zweiflers“ große Erfolge feiert, haben wir einen erfahrenen Autor für das Stück gefunden. Es gab also schon einen längeren gemeinsamen Prozess.
„BÜLOWSTRASSE wird kein Feelgood-Stück, die Konflikte und Sorgen sind existentiell für die Protagonist*innen. Juri Sternburg hat ein tolles Theaterstück und die beiden Komponisten ebensolche Songs geschrieben über diese Zeit des Zweifelns.
Das Stück passt so gut in diese Zeit – und zum GRIPS. Eine Berlin-Geschichte, die in der Bülowstraße in Schöneberg spielt. Es geht um junge Menschen, die sich nach der Schule in einem Identitätsvakuum wiederfinden und den Fragen, wer sie sind und wohin sie gehen wollen. Das wird kein Feelgood-Stück, die Konflikte und Sorgen sind existentiell für die Protagonist*innen. Juri Sternburg hat ein tolles Theaterstück und die beiden Komponisten ebensolche Songs geschrieben über diese Zeit des Zweifelns. Ich freue mich wirklich sehr auf diese große Musikproduktion bei uns.
GRIPS: Sigrun Fritsch, die die Regie übernehmen wird, ist -nicht nur fürs GRIPS, sondern wohl auch für Berlin – ein ganz neuer Name?
P. Harpain: Sigrun Fritsch hat nach einem Kunststudium die Leitung des Performance- und Aktionstheaters PAN.OPTIKUM in Freiburg übernommen, das für seine spektakulären Inszenierungen im öffentlichen Raum bekannt ist. Sie gestaltet seit vielen Jahren international genreübergreifende, große Musiktheaterproduktionen. Sie selbst kommt vom Tanz- und Körpertheater, war auch bei Pina Bausch. Sie kommt also von einem bewegten Theater im besten Sinne und auf ihren Zugriff freue ich mich sehr. Und sie hat auch schon gemeinsam mit Robin Haefs große Musikproduktionen gemacht.
LEA selbst wird dabei nicht auf der Bühne stehen. Wir werden stattdessen mit ihren Songs ein ganz eigenes Werk für unsere Bühne und gemeinsam mit unserem Ensemble schaffen.
GRIPS: Das GRIPS zeichnet sich auch durch seine intensive und v.a. sehr erfolgreiche Nachwuchsförderung aus, bei der du nicht ganz unbeteiligt warst: Du hast 2005 im Team mit der Dramaturgie und unseren Partner*innen von der GASAG den Berliner Kindertheaterpreis entwickelt und dann als Leiter modifiziert – nach 20 Jahren zählt er zu den renommiertesten und erfolgreichsten Wettbewerben für das Kindertheater.
Was waren die wichtigsten Schritte und Stellschrauben, damit der Preis so erfolgreich werden konnte, wie er es jetzt ist?
P. Harpain: Zum einen war es wichtig herauszufinden, was die Autorinnen und Autoren zum Schreiben für das Kindertheater benötigen: Um Kinder aktuell zu verstehen, was deren Themen sind, was sie brauchen und was sie beschäftigt. Und zum anderen, ihnen möglichst gewinnbringend unsere Expertise als Theaterschaffende aus den unterschiedlichen Bereichen zur Verfügung zu stellen und in Workshops mit ihnen intensiv zusammenzuarbeiten.
Zum 20-jährigen Jubiläum gibt es keinen Wettbewerb. Wir haben fünf Autorinnen und Autoren aus dem Berliner Kindertheaterpreis-Kosmos der letzten Jahre ausgesucht, mit denen wir nochmal zusammenarbeiten wollten. Von ihnen kam die Rückmeldung, dass die dichte und intensive Zusammenarbeit mit uns Theaterprofis so bereichernd war, dass sie beim Schreiben für das Kindertheater geblieben sind. Unsere ausgewählten Autorinnen und Autoren schreiben uns fünf Mini-Dramen, ausgehend von der Frage: Wie wollen wir in Zukunft leben? Dramen werden in einer Jubiläums-Gala aufgeführt, die wir wie immer gemeinsam mit unserem Partner GASAG im Mai veranstalten.
Einer der renommiertes Wettbewerbe für das Kindertheater – der „Berliner Kindertheaterpreis“ – wird 20! Mit „WOCHE – WOCHE“ von Lara Schützsack kommt das Siegerstück von 2023 zur Uraufführung
GRIPS: Ein Beispiel, welche Kinderstücke beim Kindertheaterpreis entstehen, kann man im Herbst selbst erleben, denn dann kommt „WOCHE – WOCHE“ von Lara Schützsack, wofür sie 2023 ausgezeichnet wurde.
P. Harpain: Lara Schützsack ist da ein ganz neuer Zugriff auf das Thema Trennung und Patchworkfamilie gelungen. Sie fragt konkret nach den Auswirkungen auf den Alltag des Kindes und den neuen Familien, zwischen denen es wochenweise hin- und herwechselt. Diese Wechselmodelle kennen so viele Kinder in Berlin, hier leben ja bundesweit die meisten getrennten Paare, wo die Kinder nicht in der Kernfamilie aufwachsen. Lara Schützsack erzählt als Autorin mit sehr viel Respekt, Humor, großer Lust und ganz konsequent aus der Sicht des Kindes. Sie kreidet nichts an, sondern zeigt auf. Es ist auch ein wichtiges Stück für uns Erwachsene, diese Kindersicht auf unterschiedliche Familienmodelle zu erleben. Das ist die Stärke des Stücks.
GRIPS: Die Spielzeit beginnt im September mit einer kleinen, aber feinen Premiere und einer wortgewaltigen Meisterschaft Anfang Oktober! Wir starten mit der dritten Variante unserer Reihe für die Allerkleinsten, „VIER ZURÜCK“!
P. Harpain: Regisseurin Sabine Trötschel hat 2019 für die Allerkleinsten die Geschichte VIER SIND HIER entwickelt, in denen sich vier Figuren unter einem großen Tisch in Alltagsituationen von Zwei- und Dreijährigen wiederfinden, und mit den Hindernissen, aber auch Erfolgen umgehen. Dann kam Corona und der Alltag für die Allerkleinsten änderte sich so massiv, mit Masken und Abstand halten, dass Sabine eine Corona-Fassung mit dem Titel VIER BEI DIR entwickelte. Und 2024 fragen wir: Wie ist der Alltag jetzt für kleine Kinder? Wie wirkt sich das aktuelle Zeitgeschehen auf sie aus? VIER ZURÜCK ist der Titel der dritten Folge unserer VIER-Reihe für die Allerkleinsten, mit dieser Premiere starten wir in die neue Spielzeit.
Die internationalen, deutschsprachigen U20-Poetry-Slam-Meisterschaften Anfang Oktober endlich wieder in Berlin und im GRIPS!“
GRIPS: Direkt nach dieser Premiere steppt fünf Tage lang der Bär im GRIPS: Nach zehn Jahren kommt wieder die deutschsprachige U20-Poetry-Slam-Meisterschaft ins GRIPS Theater und mischt unsere beiden Bühnen auf.
P. Harpain: Das war schon vor zehn Jahren so ein mitreißendes und begeisterndes Festival, und viele der damaligen Teilnehmenden sind ihren Weg erfolgreich weiter gegangen. Ich sage nur: Julian Heun, Bas Böttcher, Sophie Passman, Felix Lobrecht, Till Reiners, Marc Uwe Kling, Hazel Brugger, Thorsten Sträter. Sie alle haben beim U20-PoetrySlam begonnen! Wer weiß also, welche Talente sich bei dieser Meisterschaft zeigen werden?!
Der Nachwuchs-Poetry-Slam hat im GRIPS schon seit über 14 Jahren einen ganz wichtigen Stellenwert. Ich kann es nur empfehlen, denn die Poetinnen und Poeten schreiben tolle Texte.
GRIPS: Zwei große, mehrjährige Projekte, in denen es um Partizipation im Theaterbetrieb ging, finden 2025 jeweils ihren Abschluss: Das eine ist „pik – Projekt für inklusive Kunstproduktion“ der Kulturstiftung des Bundes, das wir gemeinsam seit Sommer 2022 mit THIKWA durchgeführt haben. Ende März 2025 ist bei ihnen ein kleines Festival oder eine Werkschau geplant, verrätst du dazu mehr?
P. Harpain: Was es genau wird, ist noch offen. Sicher ist, dass wir eine kleine Film-Dokumentation über die drei Jahre unserer Tandempartnerschaft zeigen werden. Die Zusammenarbeit wird außerdem mit allen Höhen, Tiefen, Grenzen, Hindernissen und Erkenntnissen in einem Augmented Reality (AR) – Format präsentiert. Unsere gemeinsame Produktion „Bumm, Krach, Boing!“ haben wir bei uns im Spielplan. Dazu laden wir bundesweit Fachleute und alle Interessierte ein.
GRIPS: Das andere, mehrjährige Projekt ist „PROPS GEHEN RAUS“ in Kooperation mit den GRIPS Werken e.V. und unterstützt durch Aktion Mensch. Ein Partizipationsprojekt, das 2022 begann, endet mit der Premiere eines von Kindern inszenierten Stücks.
P. Harpain: Ja, Partizipation ist ja das A und O der emanzipatorischen Idee unseres Theaters. Wir haben seit Jahren die unterschiedlichsten Formate für Kinder, von den Kinderkongressen bis hin zum Kinderbeirat, sowie Formate, in denen Kinder erwachsene Schauspielende inszenieren. Das Projekt PROPS GEHEN RAUS hat diese Idee aufgenommen und weiterentwickelt. Die Kinder werden das Stück schreiben und inszenieren, die Musik, die Bühne und Kostüme selbst erschaffen. Sie werden alle Bereiche des Theaters gestalten und übernehmen. Es ist für mich die konsequente Fortsetzung der Beteiligung, um in dem Bereich zu forschen und zu lernen. Wie schon bei dem Projekt mit THIKWA, wird auch PROPS von den Kolleginnen und Kollegen bundesweit mit großem Interesse wahrgenommen. Übrigens kann man auf der Website „www.propsgehenraus.de“ schon sehr viel Material zum Projekt finden.
GRIPS: Und noch ein Blick in die Zukunft: Es gibt noch einen weiteren großen Coup, der dir und Geschäftsführer Andreas Joppich gelungen ist: Die Unterstützung des Bundes für den Neubau des GRIPS Theaters! Euer Ziel ist es, 1 Million Euro an Eigenmitteln durch Spenden zu sammeln, dafür ruft ihr die Kampagne „1 Million“ aus.
P. Harpain: Wir haben vom Bund die Zusage von 19 Millionen für den Neubau bekommen, jetzt geht es uns darum, dass wir 1 Million als Eigenmittel einbringen wollen – und dafür brauchen wir die Unterstützung aller Berlinerinnen und Berliner! Ich bin mit vielen aus der Politik durch das GRIPS gegangen, um die Umstände, in denen wir hier arbeiten, zu zeigen. Auch Kai Wegner hat diese Besichtigung mitgemacht – allen war danach klar: „Ihr braucht dringend einen Neubau, wir werden euch unterstützen!“. Es ist klar, dass das mit der finanziellen Situation Berlins jetzt und in den nächsten Jahren schwierig wird. Wichtig ist, dass die Politik den dringenden Bedarf sieht. Und auch die Chance, dass wir mit diesem Neubau und der Akademie der Künste das Hansaviertel als Standort der Kultur aufwerten. Es ist ja nicht nur unsere internationale Ausstrahlung, von der Berlin profitiert, sondern wir sind auch ein Ort, der mit den vielfältigsten Mitteln Demokratieverständnis fördert und mit der Kunst soziale Impulse und Empowerment bei Kindern und Jugendlichen setzt.
Aber dafür brauchen auch wir hier im GRIPS eine Zukunft, was dieser Neubau uns geben würde. Ich hoffe sehr, dass die Presse darüber berichtet, und noch viel mehr hoffe ich auf Spenderinnen und Spender, die der GRIPS-Stiftung Geld zukommen lassen, damit wir das Ziel von 1 Million Euro Eigenmittel erreichen.
Die Fragen stellte Anja Kraus (PR im GRIPS | Blogredaktion)
Philipp Harpain hat auch mit RBB Radio 3 ausführlich gesprochen, nachzuholen in der Mediathek