In Solidarität mit den Protesten im Iran ruft das „internationale literaturfestival berlin“ gemeinsam mit internationalen Autor*innen zu einer »Weltweiten Lesung« iranischer Literatur am
10. Dezember 2022 auf.
1935 in Teheran geboren, war Forugh Farrochsād die erste und wichtigste moderne iranische Dichterin, daneben auch Filmregisseurin und Schauspielerin.
Sie hat sich maßgebend mit dem Versuch einer Neudefinition von Konventionen und Idealen auseinandergesetzt, sowie in ihrem Werk versucht, die Stereotypen von Mann und Frau zu überwinden, um die dahinterstehende Wahrheit zu „entschleiern“. Heute gilt sie als eine der begabtesten und bedeutendsten Frauen in der gesamten persischen Literaturgeschichte. Im Laufe ihres Lebens hat sie mehrere Gedichtbände veröffentlicht, von denen der letzte erst postum erschien. 1958 kam sie als Assistentin im Golestän-Film-Studio zum Film. In Täbris drehte sie 1962 den Dokumentarfilm „Das schwarze Haus“ über die Leprakolonie Behkade Rägt. 1967 starb sie im Alter von 32 Jahren bei einem Autounfall.
In Solidarität mit dem iranischen Volk, wollen wir vom GRIPS Theater ein Zeichen setzten gegen Intoleranz, Unterdrückung und plädieren für die Menschenrechte!
Hintergrund-Ausschnitt aus dem Nachwort zu dem Gedicht.
„In „Der zersprungene Spiegel“ entwirft sie das Bild einer jungen Frau, die sich vor dem Spiegel an eine Liebesszene erinnert, sich ausmalt, wie sie ihren Geliebten verführt, und sich vor Sehnsucht nach ihm verzehrt, so sehr, dass der Spiegel, von Mitgefühl erschüttert, zerspringt, dabei lässt sie uns im Unklaren darüber, ob sie sich selbst oder eine imaginäre junge Frau schildert. Aber wie dem auch sei, sie präsentiert uns hier das Bild einer jungen Frau, das in diametralem Gegensatz zur offiziellen Moral steht. Damit erfüllt sie meisterhaft eine der vornehmsten Aufgaben der Literatur, nämlich uns den Zugang zur Seele anderer Menschen zu eröffnen und etwas zu erleben, was in unserem eigenen Schicksal keinen Platz hat.“
Nachwort zur 5. Auflage von Kurt Scharf:
„Auch fünfzig Jahre nach ihrem Tod ist Forugh Farrochsād im Bewusstsein der Iraner, die Lyrik lesen, noch außerordentlich lebendig; und zu dieser Gemeinde gehören nach wie vor sehr viele Menschen, Frauen wie Männer. Zwar sind Gedichte heute wohl nicht mehr die erfolgreichste Kunstform wie zu Lebzeiten der Dichterin, ähnlich wie in Europa findet auch in Iran Erzählprosa inzwischen eine größere Leserschaft. Das hängt mit dem kulturellen und sozialen Wandel zusammen, der schon in der Schahzeit begonnen hatte, aber durch die islamische Revolution beschleunigt worden ist. Diese hat, auch wenn uns die Rolle der Religion darin vormodern anmutet, dennoch einen Schub für die Modernisierung der iranischen Gesellschaft mit sich gebracht. Heutzutage gibt es in Iran kaum noch Analphabeten, der Bildungsstand der Frauen steht nicht mehr hinter dem der Männer zurück, und das öffentliche Bewusstsein wird von der stark angewachsenen städtischen Mittelschicht bestimmt. Damit hat sich das gesellschaftliche Umfeld verän-dert, die Lyrik hat ihre Vorrangstellung nicht nur im Vergleich zu Romanen und Erzählungen, also dem, was man im angloamerikanischen Raum „,fiction“ nennt, sondern auch zu anderen Künsten, verloren. Die Bildende Kunst nimmt heute einen breiten Raum ein, es gibt nicht nur zahltciche Galerien in Teheran, sondern viel Malerei (nicht nur abstrakte, sondern auch Porträts) und Skulpturen im öffentlichen, ja sogar im sakralen Raum (dort sind es allerdings fast nur Darstellungen des Obersten Führers und seines Vorgängers, es bedeutet dennoch eine Neuerung, die vor fünfzig Jahren unvorstellbar gewesen wäre). Auch Musik, Theater und Film haben trotz der Beschränkungen durch die Zensur einen festen Platz im öffentlichen Leben. Dadurch ist die Poesie in den Hintergrund getreten.
Aber Forugh, wie die verstorbene Lyrikerin von ihrem Publikum meist nahezu vertraulich genannt wird, bildet eine Ausnahme.
Sie steht ihren Lesern so nahe wie kaum ein Dichter sonst.
Das hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen: Da ist einmal die Sprache. Die Dichterin bedient sich zwar überwiegend des Ketäbi, der über tausend Jahre alten Schriftsprache, – die wenigen im Teheraner Dialekt, der heutigen Umgangssprache, geschriebenen Verse bilden eine Ausnahme – aber sie handhabt diese in einer Weise, die keine Distanz aufbaut, sondern sie dem Alltag der Menschen nahebringt. Noch wichtiger aber dürfte der Inhalt sein. Forugh schreibt in einem Stil und behandelt Themen, die dem Lebensgefühl der heutigen Leserschaft entsprechen; und sie tut das sehr unverblümt, mit großer Ehrlichkeit, soweit sie von sich selbst spricht, und bewundernswertem Einfühlungsvermögen, wenn sie sich in andere hineinversetzt und ihnen ihre Stimme leiht. Damit wirkte sie einst bahnbrechend. Sie war ihrer Zeit weit voraus, und deswegen sind ihre Verse auch heute noch von erstaunlicher Aktualität. Hinzu kommt, dass die zahlreichen Tabubrüche, die sie wagte, einem gegenwärtigen Bedürfnis entsprechen, einem tief empfundenem Überdruss gegenüber moralischer Bevormundung, Heuchelei und mangelnder Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Damit erreicht sie keineswegs nur eine weibliche Leserschaft. Bis vor kurzem, als die Geschlechtertrennung auch für die Besucher ihres Grabes eingeführt wurde, saßen oft junge Pärchen gemeinsam an ihrer letzten Ruhestätte und lasen sich gegenseitig aus den Büchern der Dichterin vor. Auf dem Grabstein liegen, obwohl man nur an einem Tag in der Woche dorthin gehen darf, immer frische Blumen. Sie bedeutet den Menschen von heute so viel, dass der Abriss ihres Teheraner Hauses und seine Ersetzung durch ein modernes mehrstöckiges Apartmenthaus eine Nachricht war, die weltweit unter Iranern Verbreitung fand.
Dass ihre Verse auch heute noch rebellisch wirken, steigert einerseits ihre Beliebtheit, führt andererseits dazu, dass ihre Verleger die in den Augen der Herrschenden provozierendsten Gedichte in einem Akt der Selbstzensur wegzulassen pflegen.
Andererseits ist sie so beliebt, dass Anthologien ihrer Lyrik trotz ihres Widerspruchs zur offiziellen Moral und ihrer Unbekümmertheit in sexuellen Fragen immer wieder neu aufgelegt werden und zumindest eine Auswahl ihrer Poesie in fast jeder Buchhandlung erhältlich ist.
Deswegen ist der 14. Februar 2017, Forugh Farrochsäds 50. Todestag, ein willkommener Anlass, das Werk dieser größten aller iranischen Dichterinnen und einer der wichtigsten Stimmen der modernen persischen Lyrik dem deutschen Leser durch diese Neuauflage näher zu bringen.
In Deutschland ist die islamische Kultur inzwischen wesentlich bekannter als zu der Zeit, in der die erste Auflage dieses Buches erschien, und über „Nourus“, das zu Beginn des Frühlings gefeierte iranische Neujahrsfest, wird heutzutage selbst in Grundschulen gesprochen. Deshalb konnte die Ubertragung näher an den Originaltext herangeführt werden. In Anbetracht dessen, dass übersetzte Lyrik beim Leser der deutschen Version vergleichbare Assoziationen auslösen sollte wie der Originaltext beim iranischen, wurden die Texte, um mit Schleiermacher zu sprechen, seinerzeit gewissermaßen „eingebürgert“. Deswegen wurden häufig deutsche Àquivalente für iranische Begriffe statt wörtlicher Ubersetzungen verwendet. So hieß es im deutschen Text, wenn vom wöchentlichen Feiertag die Rede wat, „Sonntag“ statt „Freitag“ oder „Kirche“, wo im Persischen „Moschee“ stand, und „,Ostern“ war an die Stelle von „Nourus“ getreten.
Das scheint heute nicht mehr notwendig. Dem Leser darf man eine stärkere „Verfremdung“ zumuten, weil das Fremde uns näher gekommen ist.
Außerdem wissen wir mittlerweile dank einer Veröffentlichung des Briefwechsels von Forugh Farrochsād mit ihrem Mann, dass die beiden auch nach ihrer Trennung noch ein freundschaftliches Verhältnis zueinander hatten, sodass wir sagen können, in dem Gedicht „Gefangen“ , in dem sie den Ehemann als „Wärter“ bezeichnet, spricht ein lyrisches Ich und nicht unbedingt der Mensch Forugh Farrochsäd. Davon dürfen wir auch bei anderen Gedichten ausgehen, in denen sie Rollen einnimmt, die nicht ihrer realen Lebenswelt entsprechen, sondern in denen sie sich feinfühlig in andere Menschen hineinversetzt. Das hat in der persischen Lyrik eine lange Tradition.
Schon Saadi schreibt von Erlebnissen in der ersten Person, die et nach der Forschung kaum selbst gehabt haben dürfte. Aber Forugh füllt diese literarische Form mit einem ganz eigenen Inhalt.
Die Anthologie wurde um etwa ein Viertel erweitert: Neun im Inhaltsverzeichnis mit * gekennzeichnete Gedichte wurden neu aufgenommen. Dazu gehört vor allem „Mit was für einer Hand‘, es ist das letzte Gedicht aus ihrer Feder und ein ergreifendes Zeugnis ihrer Liebe, aber auch dessen, wie sehr sie darunter litt, dass ihr Geliebter sich nicht von seiner Frau trennen woll-te. Sechs weitere stammen aus dem Band „Eine Wiedergeburt“ und gehören somit ihrer zweiten, reifen Schaffensphase an, in der sie sich ganz von den traditionellen Formen gelöst hatte. Eine Ausnahme ist nur das Gedicht „Gasel*; mit ihm bewies sie, dass sie auch die überlieferte Gedichtform vollendet beherrschte, bemerkte aber selbstironisch dazu, auch sie habe eben der Versuchung, Gaselen zu schreiben, nicht widerstehen können. Sie hat dieses Gedicht gewissermaßen als Abrechnung nach Beendigung einer Affäre mit dem Dichter Huschang Ebtehādsch geschrieben, der für sich den Dichter-namen „Ssayé“ (Schatten) gewählt hatte. Sie hat darin, wie die klassische Gaselenform es verlangt, ihren Namen in die vor letzte Zeile eingeflochten. Aber sie gewinnt diesem Herkommen einen besonderen Reiz ab, indem sie ihren eigenen Namen, Forugh = „Funke“, dem ihres ehemaligen Liebhabers, Ssayé = „Schatten“, als Kontrast entgegenstellt.
Aber auch ihr frühes Werk ist von großem ästhetischem Reiz und trägt einen wichtigen Teil zum Gesamtbild der Dichterin bei, deswegen wurden noch zwei Gedichte aus ihrem ersten Buch in diese Anthologie aufgenommen. In ihnen spricht die Dichterin nicht für sich selbst, sondern sie äußert als lyrisches Ich gesellschaftlich missbilligte Gefühle und Empfindungen anderer Frauen. So schildert sie in „Das Flittchen“ mit Subtilität und Empathie die Gefühle eines leichten Mädchens. Sie bringt deren provokanten Ton, aber auch ihre seelische Not zum Ausdruck. Interessant ist, dass sie gerade dieses Gedicht ausnahmsweise „signiert“ hat, indem sie in der vorletzten Strophe – darin wie in dem erwähnten Gasel der Tradition folgend – ihren Vornamen „Forugh“ eingeflochten hat. In
„Der zersprungene Spiegel“ entwirft sie das Bild einer jungen Frau, die sich vor dem Spiegel an eine Liebesszene erinnert, sich ausmalt, wie sie ihren Geliebten verführt, und sich vor Sehnsucht nach ihm verzehrt, so sehr, dass der Spiegel, von Mitgefühl erschüttert, zerspringt, dabei lässt sie uns im Unklaren darüber, ob sie sich selbst oder eine imaginäre junge Frau schildert. Aber wie dem auch sei, sie präsentiert uns hier das Bild einer jungen Frau, das in diametralem Gegensatz zur offiziellen Moral steht. Damit erfüllt sie meisterhaft eine der vornehmsten Aufgaben der Literatur, nämlich uns den Zugang zur Seele anderer Menschen zu eröffnen und etwas zu erleben, was in unserem eigenen Schicksal keinen Platz hat.“