Zu „SELFIE“: Interview mit WILDWASSER e.V
In dem Theaterstück „SELFIE“ geht es u.a. darum, dass Emma und Chris in einer Partynacht miteinander schlafen, Emma jedoch so betrunken war, dass sie nicht mehr klar äußern konnte, das nicht zu wollen. Erst am nächsten Tag dämmert ihr langsam, was ihr passiert ist. Der Verein WILDWASSER, der seit fast 40 Jahren in Berlin Mädchen, junge Frauen, trans-, inter- und nicht binäre Personen bis 27 Jahre berät, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, stand dem Team von „SELFIE“ beratend zur Seite. Wir geben hier ein Interview wieder, das GRIPS-Dramaturgin Nora Hoch mit zwei Mitarbeiterinnen von Wildwasser geführt hat:
GRIPS: Wofür steht »Wildwasser« und was ist der Kern eurer Arbeit?
WILDWASSER: Das Ziel unserer Arbeit ist es, gemeinsam einen Weg zu finden, dass es den jungen Menschen wieder besser gehen kann. Die Entscheidung darüber, was gesprochen wird, liegt bei der ratsuchenden Person. Wir beantworten Fragen rund um das Thema Strafanzeige und begleiten auch während eines möglichen Strafverfahrens. All unsere Beratungen sind freiwillig und jede*r kann eine Vertrauensperson zu uns mitbringen. Es gibt auch die Möglichkeit, sich beraten zu lassen, ohne den Namen zu nennen. Alle Beratungen sind vertraulich und kostenlos.
Unsere Arbeit basiert auf einer feministischen, parteilichen und antirassistischen Haltung. Das heißt, wir sehen sexualisierte Gewalt als ein strukturelles Problem und finden, dass es die Verantwortung der Gesellschaft ist, zu verhindern, dass es zu Übergriffen kommt und dass Kinder und Jugendliche geschützt sind. Wir kämpfen dafür, dass alle Menschen unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Bildung, Religion und sexueller Identität gleichwertig behandelt werden und gleiche Möglichkeiten bekommen.
GRIPS: Wie kommen Menschen zu euch in die Beratungsstelle? Und wie lange dauert es, bis Menschen sich Hilfe suchen?
WILDWASSER: Wir sind telefonisch (Montag bis Freitag), per Mail oder über eine sichere Online-Plattform erreichbar. Häufig ist es so, dass erwachsene Vertrauenspersonen den ersten Kontakt zu uns aufnehmen, um für die betroffene Person einen Termin zu vereinbaren. In einem ersten persönlichen Termin schauen wir gemeinsam, welche Fragen die Personen haben, wie es Entlastung geben kann und vereinbaren bei Bedarf weitere Termine. Manchmal vermitteln wir auch den Kontakt zu Rechtsanwält*innen oder helfen bei der Suche nach einem Therapieplatz.
Es ist sehr unterschiedlich, wann Menschen den Kontakt zu uns suchen. Meistens dann, wenn sie das Gefühl haben, dass es gut sein könnte mit einer Person, die sich mit dem Thema auskennt, vertraulich zu sprechen. Manchmal kommen Menschen kurz nach der erlebten sexualisierten Gewalt zu uns. Andere finden den Weg nach vielen Jahren zu uns. Auch Menschen, die sich unsicher sind, ob das, was sie erleben müssen/mussten, sexualisierte Gewalt ist, können zu uns in die Beratung kommen. Wir können auch gemeinsam schauen, wie die Gewalt aufhört.
GRIPS: Erscheint euch der Plot von „SELFIE“ realistisch?
WILDWASSER: Die Handlung erscheint uns realistisch. Aus unserer Erfahrung in der Beratung ist es bei sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen häufig so, dass sich die Jugendlichen davor kannten und es ein Vertrauensverhältnis zwischen ihnen gab. Oft ist es schwer, in dem Moment zu verstehen, dass es sexualisierte Gewalt ist. Menschen realisieren oft erst mit Abstand, was sie erlebt haben.
Wir finden in so einer Situation immer wichtig, auf das eigene Gefühl zu hören und sich Unterstützung zu holen, so wie Emma das bei ihrer Frauenärztin gemacht hat.
GRIPS: Was passiert, wenn jemand wie die Figur Emma zu euch in die Beratungsstelle kommt? Was würdet ihr Emma in ihrer Situation raten?
WILDWASSER: Wir versuchen es zu vermeiden, Ratschläge zu geben. Das machen wir nur, wenn uns konkrete Fragen gestellt werden. Wir gehen immer davon aus, dass die Menschen, die bei uns Unterstützung suchen, Expert*innen für ihr Leben sind. In unseren Beratungen geht es viel um Selbstermächtigung, sich aus dem Ohnmachtserleben zu befreien und die eigene Kraft (zurück-) zu gewinnen. Manchmal möchten betroffene Personen erzählen, was genau ihnen passiert ist, und andere möchten das gar nicht. Für uns ist beides okay, wir müssen keine Details wissen.
Wenn Emma zu uns die Beratung kommen würde, dann würden wir gemeinsam schauen, was sie braucht. Möchte sie von dem Abend auf der Party erzählen? Hat sie Fragen zu der Anzeige/zu der Arbeit der Polizei? Vermutlich würden wir mit ihr darüber sprechen, dass sie keine Schuld daran hat, was passiert ist. Die Verantwortung für sein Handeln hat Chris. Viele Betroffene beschäftigt diese Frage. Sollte es Emma mit dem, was passiert ist, schlecht(er) gehen, suchen wir mit ihr gemeinsam nach Möglichkeiten der Stabilisierung und Unterstützung.“